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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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dürfte sie nicht wirklich überraschend sein, denn selbst heute noch glauben viele Menschen im Reich der Mitte, dass verstorbene Familienangehörige von der anderen Seite des Todes aus über sie wachen und ihr Schicksal beeinflussen können, im Guten wie im Schlechten. Wenn jemand stirbt, wird er fürs Begräbnis mit allen möglichen praktischen Dingen ausgestattet: einer Zahnbürste, Geld, Essen, Wasser – oder heute vielleicht mit einer Kreditkarte oder einem Computer. Das chinesische Jenseits ähnelt oft auf deprimierende (womöglich bestätigende) Weise unseren eigenen Vorstellungen. Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied: In China zollt man den Toten großen Respekt. Eine gut ausgestattete Abreise ist da nur der Anfang. Rituelle Feierlichkeiten – Gelage mit und für die Vorfahren – gehören seit Jahrhunderten zum chinesischen Leben. Professor Dame Jessica Rawson, renommierte Expertin für antike chinesische Bronzen, geht sogar noch einen Schritt weiter:
    «Die wichtigste und älteste Religion in China besteht darin, zeremonielle Mahlzeiten für die Toten zuzubereiten. Die ersten Dynastien Chinas, die Shang [ca. 1500–1050 v. Chr.] und die Zhou [ca. 1050–221 v. Chr.], fertigten eine Vielzahl von feinen Bronzebehältnissen für Essen, Alkohol und Wasser und verwendeten sie im Rahmen einer großen Feier, die manchmal täglich, vielleicht aber auch nur alle zehn Tage stattfand. Dahinter steht der Glaube, dass Essen, alkoholische Getränke oder Wasser, angemessen zubereitet, von den Toten entgegengenommen werden und sie nähren und dass diese Toten, die Ahnen, zum Dank für Speis und Trank auf ihre Nachkommen aufpassen. Die Bronzegefäße aus dieser Zeit warengeschätzte Besitztümer, die für den Gebrauch
im Leben
bestimmt waren. Sie wurden nicht primär für Bestattungen angefertigt, aber wenn eine wichtige Person aus der Oberschicht starb, glaubte man, sie werde im Jenseits auch weiterhin ihren Ahnen feierlich Essen und Trinken kredenzen – und sie tatsächlich mit Banketten unterhalten.»
    Dieses spektakuläre Bronzegefäß, das vor rund 3000 Jahren entstanden ist, bezeichnet man als
gui
. Ein solches
gui
trägt oft Inschriften, die sich heute als eine der wichtigsten Quellen chinesischer Geschichte erweisen, und diese Bronze ist genau so ein Dokument. Sie dürfte zu einem ganzen Set von unterschiedlich großen Gefäßen gehört haben, ähnlich einem Kochtopfset in einer modernen Küche; zwar wissen wir nicht, wie viele Begleiter unser Gefäß gehabt hat, aber jedem der Gefäße dürfte eine klar definierte Rolle zugekommen sein bei der Zubereitung und beim Servieren des Essens bei einem der regelmäßigen Bankette zu Ehren der Toten. Unser Gefäß hat in etwa die Form und Größe einer großen Bowlenschüssel, der Durchmesser beträgt circa 27 Zentimeter. Oben und unten ist es mit einem fein gearbeiteten, blumenartigen Muster verziert, doch am auffälligsten sind zweifellos die beiden Henkel: Sie stellen jeweils ein großes Tier mit Hauern, Hörnern und riesigen rechteckigen Ohren dar, das gerade damit beschäftigt ist, einen Vogel zu verschlingen, dessen Schnabel gerade noch aus dem Maul herausragt. Derartige Bronzegefäße gehören zu den wichtigsten Kultobjekten im alten China, und ihre Herstellung war eine ausgesprochen komplizierte Angelegenheit. Zunächst mussten die Erze, die Kupfer und Zinn enthalten, geschmolzen werden, um Bronze zu erhalten, anschließend musste die Bronze gegossen werden – in dieser Technik war China damals weltweit führend. Dieses
gui
wurde nicht als Einzelstück angefertigt, sondern verschiedene Teile wurden in verschiedenen Formen gegossen und dann zu einem komplexen Kunstwerk zusammengesetzt. Das Ergebnis ist ein Gefäß, wie es so damals nirgendwo sonst auf der Welt hätte hergestellt werden können. Die Fertigkeiten, die Mühsal und die Kosten, die es erforderte, Bronzegefäße wie diese zu produzieren, machten sie fast zwangsläufig zu Objekten von höchstem Wert und Status, die sich deshalb auch für die feierlichsten Rituale eigneten.
    Bei Feiern zu Hause kredenzten Familien den wachsamen Toten Speis und Trank; im größeren Maßstab brachten Regierungen sie den mächtigen Götterndar. Zwar richtete sich das
gui
an die Ahnen und die Welt der Vergangenheit, doch zugleich bestätigte es damit auf emphatische Weise Autorität in der Gegenwart – in einem schwierigen, unruhigen Moment des Übergangs für China, als die Verbindung zwischen himmlischen und

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