Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
irdischen Autoritäten besonders wichtig war.
Unter der Shang-Dynastie, die um 1500 v. Chr. an die Macht kam, waren die ersten Großstädte Chinas entstanden. Deren letzte Hauptstadt Yin, im Norden des Landes als Teil des heutigen Anyang am Gelben Fluss gelegen, umfasste ein Gebiet von 30 Quadratkilometern und hatte 120.000 Einwohner – zur damaligen Zeit muss es eine der größten Städte auf der Welt gewesen sein. Das Leben in den Shang-Städten war in hohem Maße geregelt, es gab einen zwölf Monate umfassenden Kalender, Dezimalmaße, Wehrpflicht und ein zentralisiertes Steuerwesen. Als Zentren des Reichtums waren die Städte auch Orte herausragender künstlerischer Produktion von Keramik, Jade und vor allem Bronze. Doch dann, vor rund 3000 Jahren, brachen vom Mittelmeerraum bis zum Pazifik bestehende Gesellschaften zusammen, und an ihre Stelle traten neue Mächte.
Die Shang, die rund 500 Jahre lang an der Macht gewesen waren, wurden von einer neuen Dynastie gestürzt, den Zhou, die aus dem Westen kamen, aus den Steppen Zentralasiens. Wie die Kuschiten aus dem Sudan, die ungefähr zur gleichen Zeit Ägypten eroberten, waren die Zhou ein Volk aus den Randgebieten des Reiches, welches das alteingesessene, prosperierende Zentrum herausforderte und stürzte. Schließlich brachten sie das gesamte Königreich der Shang unter ihre Kontrolle und übernahmen, auch hier ähnlich den Kuschiten, nicht nur den Staat, den sie unter ihre Kontrolle gebracht hatten, sondern auch dessen Geschichte, Symbolik und Rituale. Sie förderten nach wie vor die unterschiedlichsten Formen künstlerischen Schaffens und pflegten weiterhin das Ritual des üppigen Schmauses mit den Toten, bei dem Gefäße wie unser
gui
zum Einsatz kamen und das für die politische Autorität in China eine zentrale Rolle spielte. Damit sollte öffentlich demonstriert werden, dass die Götter das neue Regime guthießen.
Wirft man einen Blick in das
gui
, so findet man dort eine Überraschung, die es sowohl zu einem Machtinstrument als auch zu einem Ritualgegenstand macht. Auf dem Boden des Gefäßes, der normalerweise mit Speisen bedeckt ist, findetman eine Inschrift in chinesischen Schriftzeichen, nicht unähnlich denen, die heute verwendet werden; sie lässt uns wissen, dass diese Schüssel für einen Zhou-Krieger angefertigt wurde, einen der Invasoren, welche die Shang-Dynastie stürzten. Zu dieser Zeit zeugt jede formelle Inschrift von hohem Ansehen, aber eine Bronzeinschrift lässt auf eine ganz besondere Autorität schließen. Die Inschrift berichtet von einer bedeutenden Schlacht, bei der die Zhou endgültig die Oberhand über die Shang behielten:
Die Inschrift im Innern des gui erinnert an die Niederschlagung eines Shang-Aufstands durch die Zhou.
«Nachdem der König das Land der Shang unterworfen hatte, betraute er den Marquis K’ang damit, es zu einem Grenzgebiet zu machen, das den Staat Wei bilden sollte. Da Mei Situ Yi an dieser Umwandlung beteiligt war, ließ er zu Ehren seines verstorbenen Vaters dieses heilige Gefäß anfertigen.»
Der Mann, der das
gui
in Auftrag gab, Mei Situ Yi, tat dies also, um seinen toten Vater zu ehren, und erinnerte gleichzeitig als loyaler Angehöriger der Zhou-Dynastie an die Niederschlagung eines Shang-Aufstands um 1050 v. Chr. durch den Bruder des Königs, den Marquis K’ang. Da auf Bambus oder Holz Geschriebenes heute nicht mehr existiert, bilden derartige Bronzeinschriften unsere wichtigste historische Quelle, und mit ihrer Hilfe können wir die anhaltenden Auseinandersetzungen zwischen den Shang und den Zhou rekonstruieren.
Wir wissen nicht, warum die zahlenmäßig und technisch unterlegenen Zhou den mächtigen und gut organisierten Staat der Shang in die Knie zwingen konnten. Sie scheinen über die bemerkenswerte Fähigkeit verfügt zu haben, Verbündete zu einer einheitlichen Angriffstruppe zusammenzuschmieden, doch in erster Linie waren sie beseelt von ihrem Glauben an sich selbst als das auserwählte Volk. Mit der Eroberung des Shang-Königreichs und der anschließenden Herrschaft darüber, so glaubten sie – wie übrigens viele andere Eroberer –, würden sie den Willen den Götter vollstrecken; also kämpften sie mit dem Selbstvertrauen, das aus dem Wissen resultierte, dass sie die rechtmäßigen Erben des Landes waren. Aber – und das war neu – sie artikulierten diese Überzeugung in Form eines Herrschaftskonzepts, das zu einer zentralen Vorstellung in der politischen Geschichte Chinas werden
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