Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
dass viele von ihnen buchstäblich aus dem Zug geworfen wurden, ohne Werkzeug, ohne Saatgut, und dort in Sibirien oder sonst wo sich selbst überlassen blieben; kein Wunder also, wenn viele starben. Es ist interessant zu sehen, dass die Menschen im Falle von Lachisch, bei den frühen Deportationen in vorchristlicher Zeit, ihre Schafe mitnehmen durften, während sie unter Stalin alles zurücklassen mussten.»
Sanherib war also nicht ganz so schlimm wie Stalin. Für die Opfer war das allerdings nur ein schwacher Trost. Das Lachisch-Relief zeigt das Elend, das eine Niederlage im Krieg stets mit sich bringt, auch wenn sich die Darstellung natürlichnicht auf die Judäer konzentriert, sondern auf Sanherib in der Stunde seines Triumphs. Sanheribs alles andere als glorreiches Ende ist freilich nicht dargestellt – ermordet von zweien seiner Söhne, als er gerade zu den Göttern betete, die ihn zum Herrscher bestimmt hatten. Ihm folgte ein anderer Sohn, dessen Sohn wiederum Ägypten eroberte und den Pharao Taharqa besiegte, der im Zentrum des nächsten Kapitels stehen wird. Der Kreislauf des Krieges, den das Lachisch-Relief zeigt – brutal, erbarmungslos und für die Zivilbevölkerung mit verheerenden Folgen –, sollte von neuem beginnen.
«Sanherib, der mächtige König, … beobachtet die Plünderung von Lachisch.»
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Die Sphinx des Taharqa
Granitsphinx, gefunden bei Kawa, Nordsudan
Um 680 v. Chr.
Fragt man danach, zu welchem Land der Nil gehört, kommt den meisten Menschen vermutlich sogleich Ägypten in den Sinn. Doch den Nil können insgesamt neun afrikanische Länder für sich in Anspruch nehmen, und je knapper die Wasserressourcen werden, desto stärker wird die Frage, wem der Nil gehört, heute zu einer drängenden politischen Angelegenheit.
Von entscheidender Bedeutung für das Leben im modernen Ägypten ist die Tatsache, dass der Nil überwiegend durch den Sudan fließt. Ägypten hegte seit jeher Misstrauen gegenüber seinem Nachbarn im Süden, aber in der Geschichte war es meistens das stärkere Land. Doch wie dieses Objekt zeigt, gab es vor gut 3000 Jahren einen historischen Moment, als die Dinge rund ein Jahrhundert lang ganz anders lagen.
Sphingen – Statuen mit dem Körper eines Löwen und dem Kopf eines Mannes – sind Geschöpfe des Mythos und der Legende, stellen aber auch die bedeutendsten Symbole königlicher Macht in Ägypten dar; das berühmteste Exemplar ist natürlich die Große Sphinx von Gizeh.
Im Vergleich zu dieser ist unsere Sphinx hier recht klein – sie hat in etwa die Größe eines Cockerspaniels –, aber sie ist insofern besonders interessant, weil sie nicht nur ein Hybrid aus Löwe und Mensch ist, sondern weil in ihr Ägypten und das Königreich Kusch im heutigen Nordsudan miteinander verschmelzen. Sie besteht aus sandgrauem Granit und ist wunderbar erhalten. Der muskulöse Rücken des Löwen, die Haarmähne und die machtvoll ausgestreckten Pranken sind klassisch ägyptische Topoi – doch es ist nicht das typische Gesicht eines ägyptischen Pharaos, denn dieser Mann ist zweifellos Schwarzafrikaner, und diese Sphinxstellt einen schwarzen Pharao dar. Hieroglyphen auf der Brust der Sphinx geben endgültige Klarheit: Es ist das Porträt des berühmten Königs Taharqa, des vierten Pharaos, der über das gemeinsame Königreich Kusch und Ägypten herrschte.
Wir sprechen hier von der Welt um 700 v. Chr. Die Bevölkerungszahlen waren zwar noch gering – nur rund ein Prozent der heutigen Weltbevölkerung lebte damals auf dem gesamten Globus –, doch kam es häufig zu großen und erbitterten Konflikten. Krieg war allgegenwärtig, und eines der Charakteristika dieser Zeit war, dass ärmere Völker, die an der Peripherie lebten, etablierte Zentren von Reichtum und zivilisatorischem Fortschritt eroberten. Im Falle Ägyptens wurde das mächtige Land der Pharaonen von seinem Nachbarn im Süden – dem Reich von Kusch – erobert und eine Zeitlang regiert.
Über Jahrtausende hatte Ägypten seinen südlichen Nachbarn im Wesentlichen als reiche, aber aufrührerische Kolonie betrachtet, deren Rohstoffe man ausbeuten konnte – es gab Gold, es gab Elfenbein, und es gab, ganz wichtig, Sklaven. In dieser Kolonialbeziehung war Ägypten eindeutig der Herr. Doch 728 v. Chr. kippten die bestehenden Machtverhältnisse. Ägypten war fragil und schwach geworden, und der kuschitische König Pije ergriff die Chance, seine Truppen gen Norden in Marsch zu setzen, wo sie eine ägyptische Stadt nach
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