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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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die anderen Skulpturen in diesem Gebäude dürften sie ursprünglich in den Farben Rot, Blau und Gold verziert gewesen sein; eine dieser Metopen (heute ohne Farbe) habe ich ausgewählt, um anhand dieses Objekts über Athen um 440 v. Chr. zu sprechen.
    Die Metopen handeln allesamt von Schlachten – Schlachten zwischen den Göttern im Olymp und den Giganten, zwischen Athenern und Amazonen und in den Reliefs, die ich näher betrachten will, zwischen Lapithen und Kentauren. Die Figuren sind fast freistehend, und die menschlichen sind über einen Meter groß. Kentauren – halb Pferd, halb Mensch – greifen die Lapithen an, ein sagenhaftes griechisches Volk. Laut mythologischer Erzählung begingen die Lapithen den Fehler, den Kentauren bei der Hochzeit ihres Königs Wein vorzusetzen. Die Kentauren waren nach einiger Zeit fürchterlich betrunken und versuchten die Frauen zu vergewaltigen, während ihr Anführer die Braut mit sich nehmen wollte. Daraufhinkam es zu einer erbitterten Schlacht, an deren Ende die Lapithen – die Griechen – über die Kentauren, ihre halb-animalischen Feinde, siegten.
    Diese Skulptur ist besonders bewegend; es gibt nur zwei Figuren – einen Kentaur, der sich triumphierend über einem am Boden liegenden, sterbenden Lapith aufrichtet. Und wie so viele der Parthenon-Skulpturen ist auch diese beschädigt, so dass wir den Gesichtsausdruck des sterbenden Lapiths oder die Aggression in den Augen des Kentauren nicht mehr erkennen können. Gleichwohl haben wir es mit einer wundervollen, mitreißenden Skulptur zu tun. Aber was bedeutet sie? Und inwiefern kann sie exemplarisch für eine bestimmte Auffassung vom Staat der Athener stehen?
    Wir sind ziemlich sicher, dass diese Skulpturen auf Mythen zurückgreifen, um eine heroische Version jüngster Ereignisse zu präsentieren. Eine Generation bevor die Skulpturen angefertigt wurden, war Athen einer von mehreren, heftig miteinander konkurrierenden Stadtstaaten, die durch die persische Invasion des griechischen Festlands gezwungen waren, sich zu verbünden. Wenn wir also auf den Metopenreliefs sehen, wie Griechen gegen Kentauren kämpfen, stehen diese mythologischen Schlachten stellvertretend für den ganz realen Kampf zwischen Griechen und Persern. Mary Beard, Professorin für Alte Geschichte an der Universität Cambridge, erklärt, was die Skulpturen für die Menschen, die sie als Erste sahen, bedeuteten:
    «Das Athen der Antike ist eine Welt, in der man die Dinge unter dem Aspekt des Konflikts, des Gewinnens und Verlierens betrachtet. Wir haben es mit einer Konfliktgesellschaft zu tun, und was ihre eigene Stellung in der Welt oder ihr Verhältnis zu denen, die sie eroberten oder verachteten, angeht, so dachten die Athener in Kategorien des ‹Feindes› oder des ‹Anderen›, denen nichts Menschliches anhaftete. Was wir also hier auf dem Parthenon sehen, sind verschiedene Möglichkeiten, das ‹Anderssein› des Feindes zu begreifen. Am besten interpretiert man die Metopen wohl so: Der heldenhafte Konflikt ist notwendig, um die Ordnung zu garantieren. Das impliziert ein Gefühl, das wir sehr gut nachvollziehen können. Wir wollen nicht in der Welt der Kentauren leben. Wir wollen in der griechischen Welt leben, in der Welt Athens.»
    Mit der «Welt der Kentauren» dürften die Athener nicht nur das Perserreich gemeint haben, sondern auch andere konkurrierende Stadtstaaten und insbesondereSparta, gegen das Athen häufig Krieg führte. Der Kampf gegen die Kentauren, den wir auf den Reliefs sehen, wird zum Sinnbild für die fortwährende Schlacht, die in den Augen der Athener jeder zivilisierte Staat ausfechten muss. Der rationale Mensch muss ständig gegen rohe Unvernunft ankämpfen. Dem Feind die menschlichen Attribute abzusprechen führt auf gefährliche Abwege, aber es ist ein sehr brauchbarer Schlachtruf, der die eigenen Reihen schließt, wenn man in den Krieg zieht. Will man das Chaos verhindern, so die Botschaft, muss die Vernunft immer und immer wieder gegen die Unvernunft kämpfen.
    Ich habe diese spezifische Skulptur ausgewählt, weil sie uns die bittere Erkenntnis vermittelt, dass, kurz gesagt, die Vernunft nicht immer siegt. Die Verteidigung des vernünftig geordneten Staates wird einige seiner Bürger das Leben kosten. Und doch – und gerade deshalb ist diese Skulptur ein so herausragendes Werk – wird der sterbende Mensch mit solchem Pathos gezeigt, wird der erbitterte Kampf mit solcher Eleganz dargestellt, dass der Sieg nicht an das

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