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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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das es mir in diesen Kapiteln geht, aber vielleicht würde der Ausdruck «Staaten des Geistes» die Sache noch genauer beschreiben – denn ich stelle hier Objekte vor, die uns zeigen, wie verschiedene Menschen sich einen effektiven Staat vorstellen. Im Falle Persiens habe ich einen Spielzeugstreitwagen ausgesucht; was Athen angeht, werde ich einen Tempel ins Auge fassen. DaGriechen und Perser so lange Krieg gegeneinander führten, verwundert es nicht, dass sie ziemlich unterschiedliche Vorstellungen davon hatten, was ein Staat sein sollte. Aber gerade weil sie einander bekämpften, definierten sie den idealen Staat in Abgrenzung vom Staat des Feindes. Im Jahre 480 v. Chr. zerstörten persische Truppen den Tempel auf der Athener Akropolis. An dessen Stelle errichteten die Athener den Parthenon, wie wir ihn heute kennen.
    Es gibt nur wenige Objekte, die in den letzten 200 Jahren so übereinstimmend als Verkörperung ganz bestimmter Ideen gesehen wurden wie der Parthenon. Deshalb werde ich im folgenden Kapitel eine der Skulpturen beschreiben, die ihn zieren.



27
Parthenonskulptur: Kentaur und Lapith
    Marmorrelief, aus dem Parthenon, Athen, Griechenland
Um 440 v. Chr.
    Um 1800 schaffte Lord Elgin, der britische Gesandte beim Sultan des Osmanischen Reiches, einige Skulpturen aus den Ruinen des Parthenon in Athen beiseite und stellte sie ein paar Jahre später in London öffentlich aus. Für die meisten Westeuropäer war es das erste Mal, dass sie überhaupt einen Blick auf griechische Skulpturen werfen konnten, und sie waren überwältigt und beseelt von der Lebendigkeit und von der Schönheit dieser Werke. Doch im 21. Jahrhundert sind die Elgin Marbles, wie man sie lange Zeit genannt hat, weniger als Kunstwerke berühmt denn als zentraler Gegenstand politischer Streitigkeiten. Bei den meisten Menschen stellt sich heute im Angesicht der Parthenon-Skulpturen oft nur eine einzige Frage: Sollten sie in London oder in Athen sein? Die griechische Regierung beharrt darauf, ihr rechtmäßiger Platz sei in Athen; die Kuratoren des Britischen Museums hingegen sind der Ansicht, in London seien sie integraler Bestandteil der Geschichte der Weltkulturen.
    In dieser leidenschaftlichen Debatte hat jeder eine Meinung; ich will mich jedoch insbesondere auf eine Skulptur konzentrieren und zeigen, was diese Skulptur für die Menschen bedeutete, die sie im 5. Jahrhundert v. Chr. anfertigten und betrachteten.
    Die Parthenon-Skulpturen wollen ein Athener Universum darstellen, das aus Göttern, Helden und Sterblichen besteht und das sich aus komplexen, miteinander verwobenen Szenen zusammensetzt, die der Mythologie und dem Alltagsleben entnommen sind. Wir haben es hier mit einigen der bewegendsten und erhebendsten Skulpturen zu tun, die je geschaffen wurden. Sie sind inzwischen so vertraut und haben das europäische Denken so sehr geprägt, dass es schwer fällt, ihre ursprünglicheWirkung zu rekonstruieren. Doch zu der Zeit, da sie angefertigt wurden, stellten sie eine ziemlich neue Sicht dessen dar, was es geistig und physisch bedeutete, Mensch oder genauer: Athener zu sein. Diese Skulpturen sind die ersten und besten Ergebnisse einer neuen visuellen Sprache. Olga Palagia, Professorin für Klassische Archäologie an der Universität Athen, erklärt, was sie so besonders macht:
    «Hinter diesem neuem Stil stand die Vorstellung, ein neues Gleichgewicht zwischen dem menschlichen Körper, menschlicher Bewegung und der Kleidung zu schaffen … Ziel war es, die perfekten Proportionen des menschlichen Körpers zu entwerfen. Die Schlüsselbegriffe dieses neuen klassischen Stils waren Harmonie und Gleichgewicht – deshalb sind die Skulpturen des Parthenon so zeitlos, weil die Figuren, die man hier schuf, zeitlos sind.»
    Die Skulpturen wurden jedoch zu einer ganz bestimmten Zeit zu einem ganz bestimmten Zweck angefertigt. Sie stehen exemplarisch dafür, wie diese Gesellschaft über sich selbst dachte. Der Parthenon war ein Tempel, welcher der Göttin Athena Parthenos geweiht war, also der jungfräulichen Athene. Er wurde auf der Akropolis errichtet – einer Festungsanlage auf einem Felsen im Herzen der Stadt – und wies eine zentrale Halle auf, in der eine kolossale Statue der Göttin aus Gold und Elfenbein untergebracht war. Und überall gab es Skulpturen.
    An allen vier Seiten des Gebäudes gab es oberhalb der Säulen und für jeden Besucher gut sichtbar eine Reihe von 92 quadratischen Reliefs, die man als Metopen bezeichnet. Wie all

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