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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil MacGregor
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sich aufbäumende Halbtier geht, sondern an den Athener Künstler, der den Konflikt in so große Schönheit verwandeln kann. Auf lange Sicht, so scheint diese Skulptur zu sagen, können allein Geist und Vernunft Dinge schaffen, die von Dauer sind. Der Sieg ist nicht nur politischer Natur; er ist auch künstlerischer und intellektueller Art.
    Soweit die Perspektive der Athener. Wie aber wurde der Parthenon von Menschen wahrgenommen, die aus einer der anderen griechischen Städte kamen? Da der Parthenon als Tempel bezeichnet wird, könnte man glauben, dass es sich um einen Ort des Gebets und des Opfers gehandelt hat; tatsächlich wurde er zu einer Schatzkammer – einer Kriegskasse, mit der man die Verteidigung Griechenlands gegen die Perser finanzierte. Mit der Zeit jedoch wurden die Kämpfe vor allem über Schutzgeld finanziert, das Athen von den anderen griechischen Stadtstaaten verlangte, wenn es sich an deren Spitze setzte. Es zwang sie, zu Satellitenstaaten des immer größer werdenden athenischen Seereichs zu werden. Und ein Großteil dieses Geldes wurde von den Athenern abgezweigt, um damit die Bauvorhaben auf der Akropolis zu finanzieren. Mary Beard erläutert, wie Nicht-Athener den Parthenon gesehen haben:
    «Der Parthenon dürfte eines dieser Bauwerke gewesen sein, die man bespuckt und denen man Fußtritte verpasst. Man wusste, wenn man zu den Untertanen Athens gehörte, war das Bauwerk Ausdruck der eigenen Unterordnung. Zu derZeit, als der Parthenon errichtet wurde, gab es in Athen eine lautstarke Fraktion, die dafür plädierte, das Geld nicht für diese Zwecke zu verwenden. Denn das hieße, so einer ihrer Vertreter, Athen zu einer aufgetakelten ‹Hure› zu machen. Wir können diese Vorstellung heute nur ganz schwer nachempfinden, denn die Parthenon-Skulpturen wirken auf so strenge, asketische Weise schön. Man bringt sie nur schwer mit Prostitution in Verbindung. Es ist eine fast unangenehme Vorstellung, dass unser Maßstab für guten klassischen Geschmack damals auf viele vulgär wirkte. Aber das war ohne Zweifel der Fall.»
    Ungewöhnlich am Parthenon ist neben vielem anderen die Tatsache, dass verschiedene Menschen zu verschiedenen Zeiten ganz Unterschiedliches damit verbanden. Ursprünglich als Tempel für die jungfräuliche Göttin Athene entworfen, war er jahrhundertelang eine christliche Kirche für die Jungfrau Maria und wurde später in eine Moschee umgewandelt. Ende des 18. Jahrhunderts war er eine vernachlässigte Ruine in einem unbedeutenden Athen, das von den Türken regiert wurde. Doch in den 1820er und 1830er Jahren erlangten die Griechen ihre Unabhängigkeit und bekamen von ihren europäischen Verbündeten einen deutschen König. Der neue Staat musste für sich bestimmen, was für eine Gesellschaft er sein wollte. Olga Palagia erzählt die Geschichte dieser Nationwerdung:
    «Griechenland erstand um 1830 wieder als unabhängiger Staat. Wir hatten einen deutschen König, der aus Bayern nach Griechenland gekommen war, und die Deutschen beschlossen, das Athen des Perikles wiederauferstehen zu lassen. Damit begann meiner Ansicht nach die dauerhafte Identifikation der neuen griechischen Nation mit dem Parthenon. Also restaurieren wir ihn seit 1834, und ich bin mir sicher, dass das eine unendliche Geschichte werden wird – der dauerhafte Versuch, den Parthenon als Symbol wiederherzustellen und neu zu definieren. Die Saat, welche die Deutschen 1834 legten, ist also tatsächlich zu enormer Größe und Bedeutung herangewachsen.»
    Dieses berühmte Bauwerk hatte somit in den 1830er Jahren noch einmal eine ganz neue Bedeutung bekommen. Nicht als Selbstbild einer antiken Stadt, sondern als Symbol eines neuen, modernen Landes. Und dieses Sinnbild war allen gebildeten Europäern vertraut durch die Skulpturen im Britischen Museum, die seit 1817 dort zu sehen waren.
    Besonders bemerkenswert an der jüngsten europäischen Geschichte ist, dass und wie Länder, die ihre Identität in der Gegenwart bestimmen und stärken wollen, auf ganz bestimmte Momente ihrer Vergangenheit zurückblicken. In den letzten rund einhundert Jahren wollten sich immer mehr Menschen in Irland, Schottland und Wales als Erben eines Volkes sehen, das zu der gleichen Zeit, als die Athener den Parthenon erbauten, in Nordeuropa seine Blütezeit erlebte. Und diesen anderen Europäern von vor 2500 Jahren – Europäern, die von den Griechen geringschätzig als Barbaren abgetan wurden – will ich mich im folgenden Kapitel

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