Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
erfordert:
«Lackware herzustellen erfordert unglaublich viel Zeit. Es handelt sich um ein sehr arbeitsintensives und langwieriges Verfahren; nachdem man das Sekret aus dem Lackbaum gewonnen hat, folgen alle möglichen Prozeduren: Man vermischt den Saft mit Pigmenten, lässt ihn aushärten, trägt eine Schicht nach der anderen auf einen hölzernen Kern auf und erhält am Ende ein wundervolles Stück wie dieses. Insgesamt dürften einige Kunsthandwerker an seiner Herstellung beteiligt gewesen sein.»
Qualitativ hochwertiger Lack war wunderbar glatt und im Grunde unzerstörbar. Erlesene Exemplare wie unsere Tasse erforderten dreißig oder mehr getrennte Anstriche, zwischen denen der Lack jeweils lange trocknen und aushärten musste; die Herstellung dürfte also durchaus einen Monat in Anspruch genommen haben. Es überrascht deshalb nicht wirklich, dass diese Objekte extrem teuer waren; für den Preis einer lackierten Tasse bekam man zehn Stück aus Bronze. Lacktassen waren also streng auf die oberste Schicht beschränkt – auf die kaiserlichen Gouverneure, welche die Grenzen des Reiches sicherten.
Das chinesische Han-Reich und das Imperium Romanun umfassten in etwa die gleiche Fläche, doch China war bevölkerungsreicher. Eine Volkszählung, die nur zwei Jahre, bevor unsere Tasse entstand, durchgeführt wurde, kam auf die erstaunlich genaue Zahl von 57.671.400 Reichsbewohnern. Noch einmal Roel Sterckx:
«Wir müssen immer im Hinterkopf behalten, dass das chinesische Reich riesig ist und geographisch völlig unterschiedliche Regionen umfasst. Im Falle der Han-Dynastie sprechen wir von einer Erstreckung, die von Nordkorea bis Vietnam reicht. Dass Kontakt zwischen den Menschen bestand, ist nicht immer ersichtlich, deshalb gehört die Verbreitung von Gütern, von kaiserlich sanktionierten Objekten zusammen mit Texten zur symbolischen Geltendmachung dessen, was es heißt, ein Imperium zu sein. Man begegnete vielleicht keinen Menschen, die Teil des gleichen Reiches waren, aber wenn man die Güter wahrnahm, die überall im Reich produziert wurden, konnte man tatsächlich das Gefühl haben, auf vielfache Weise zu dieser größeren, imaginierten Gemeinschaft zu gehören.»
Eines der wichtigsten Ziele des Reichsoberhaupts war deshalb, diese Empfindung einer imaginierten Gemeinschaft zu stärken – und das war nicht billig. Üblicherweise gab der Kaiser alljährlich einen großen Teil der staatlichen Einnahmen dafür aus, Verbündete und Vasallenstaaten mit Luxusgeschenken zu versorgen, zu denen auch Tausende von Seidenrollen und Hunderte von Lacktassen gehörten. Unsere Tasse ist somit Teil eines ganzen Systems: Sie ging entweder als kaiserliches Geschenk oder anstelle eines Gehalts an einen höheren Beamten in den Militärgarnisonen der Han-Dynastie nahe der heutigen nordkoreanischen Hauptstadt Pjöngjang. Abgesehen von ihrem materiellen Wert sollte sie Ansehen verleihen und eine persönliche Verbindung zwischen dem Kommandanten und dem Kaiser symbolisieren.
Zu diesem Zeitpunkt in der Geschichte der Han-Dynastie lag die Staatsführung jedoch nicht in den Händen des Kaisers, sondern der Kaiserinwitwe (und Kaiseringroßmutter) Wang, die das Reich letztlich dreißig Jahre lang regierte, da keiner der Kaiser viel Zeit oder Eignung für diese Tätigkeit mitbrachte. Sie hatte einen Kaisersohn, der einen Großteil seiner Zeit mit einer Konkubine namens Fliegende Schwalbe verbrachte (die, so hieß es, so leicht sei, dass sie auf seinerHandfläche tanzen konnte); einen Kaiserenkel, der in seinen Geliebten vernarrt war; und einen weiteren Enkel, zur Zeit unserer Tasse Inhaber des Throns. Er hatte ihn im Alter von neun Jahren bestiegen und sollte mit 15, zwei Jahre nach Entstehung unseres Objekts, mittels Pfefferwein vergiftet werden. Diese Lacktasse erlebte also interessante Zeiten, und ihre Herstellung wurde mit ziemlicher Sicherheit von der Kaiserinwitwe veranlasst.
Chinesische Schriftzeichen am unteren Tassenrand berichten uns, wer an der Herstellung des Trinkgefäßes beteiligt war.
Die Staatsmaschinerie, zu der auch die Produktion von Luxusgütern gehörte, war so gut strukturiert, dass sie trotz solcher Schwächen an der Spitze perfekt funktionierte. Diese Tasse zeugt von der enormen Kunstfertigkeit, die bei ihrer Herstellung am Werk war, umso mehr, als sie einer Qualitätskontrolle unterlag, wie sie die meisten Luxusdesignerobjekte von heute nicht durchlaufen müssen.
Um die ovale Unterseite der Tasse läuft ein
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