Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
entstand, waren die Hieroglyphen nicht mehr allgemein gebräuchlich. Einzig die Tempelpriester verwendeten und verstanden sie noch. 500 Jahre später war dann auch dieses begrenzte Wissen, wie man sie las und schrieb, verschwunden.
Der Stein von Rosette überstand ungelesen 2000 Jahre weiterer Fremdherrschaft. Nach den Griechen kamen die Römer, die Byzantiner, die Perser, die muslimischen Araber und die osmanischen Türken – sie alle hatten Herrschaftsgebiete in Ägypten. Irgendwann wurde der Stein vom Tempel in Sais im Nildelta, wo er zuerst aufgestellt worden war, in die rund sechzig Kilometer entfernte Stadt el-Rashid gebracht, die heute Rosette heißt.
Dann, im Jahr 1798, kam Napoleon. Die französische Invasion war natürlich in erster Linie militärischer Natur (man wollte den Briten den Weg nach Indien abschneiden). Doch mit den französischen Truppen kamen auch Wissenschaftler ins Land. Als Soldaten die Befestigungsanlagen in Rosette wiederaufbauten, stießen sie auf den Stein – und die Fachleute in ihrem Gefolge erkannten sofort, dass sie etwas höchst Bedeutsames gefunden hatten.
Die Franzosen beschlagnahmten den Stein als Kriegsbeute, doch er schaffte es niemals bis nach Paris. Als die französische Flotte in der Seeschlacht von Abukir von Admiral Nelson geschlagen wurde, kehrte Napoleon selbst nach Frankreich zurück und beließ seine Truppen in Ägypten. 1801 ergaben sich die Franzosen britischen und ägyptischen Generälen. Zu den Bedingungen des Kapitulationsvertrags von Alexandria gehörte die Aushändigung von Antiquitäten, darunter auch des Steins von Rosette.
Die Inschrift, welche die Erbeutung des Steins durch die Truppen Napoleons vermerkt.
Die letzte Zeile des Hieroglyphentexts verriet, dass die Schriftzeichen sowohl Bildsymbole als auch Lautzeichen waren.
In den meisten Büchern ist zu lesen – und ich habe diese Lesart oben übernommen –, dass sich auf dem Stein drei Sprachen finden. Wirft man jedoch einen Blick auf die Bruchstellen, so findet man noch eine vierte. Dort steht auf Englisch:
Captured in Egypt by the British Army in 1801
(von der britischen Armee 1801 in Ägypten erbeutet) und – an anderer Stelle –
Presented by King George III.
(ein Geschenk König Georgs III.). Damit wird deutlich: Während der Text auf der Vorderseite des Steins vom ersten europäischen Imperium in Afrika handelt, nämlich dem Reich Alexanders des Großen, steht der Fund des Steins am Beginn eines weiteren europäischen Abenteuers: der erbitterten Rivalität zwischen Großbritannien und Frankreich um die Vorherrschaft im Nahen Osten und in Afrika, die von der Zeit Napoleons bis zum Zweiten Weltkrieg andauerte. Ich fragte die ägyptische Autorin Ahdaf Soueif nach ihrer Ansicht über diese Geschichte:
«Dieser Stein erinnert mich daran, wie oft Ägypten Schauplatz der Schlachten anderer Völker war. Es ist eines der frühesten Objekte, anhand dessen man die westlichen Kolonialinteressen in Ägypten nachverfolgen kann. Die Franzosen und die Briten kämpften um das Land; dabei scheint niemand daran gedacht zu haben, dass es keinem von beiden gehörte. Ägyptens ausländische Herrscher, von den Römern über die Osmanen bis zu den Briten, sind mit dem kulturellen Erbe des Landes stets recht freizügig umgegangen. 2000 Jahre lang stand Ägypten unter fremder Herrschaft, und 1952 war einer der wichtigsten Aspekte, dass Nasser der erste ägyptische Regent seit den Pharaonen war.»
Der Stein wurde ins Britische Museum gebracht und dort sogleich ausgestellt – im öffentlichen Bereich, frei zugänglich für jeden Wissenschaftler dieser Welt –,und weltweit wurden Kopien und Abschriften veröffentlicht. Europäische Forscher machten es sich zur Aufgabe, die geheimnisvolle Hieroglyphenschrift zu entziffern. Die griechische Inschrift konnte jeder Wissenschaftler lesen, und sie galt deshalb als Schlüssel zum Verständnis der Hieroglyphen. Doch keiner kam so recht weiter. Ein brillanter englischer Universalgelehrter namens Thomas Young erkannte richtigerweise, dass eine Gruppe von Hieroglyphen, die mehrmals auf dem Stein wiederholt wurden, die Laute eines Königsnamens darstellten – Ptolemäus. Das war ein wichtiger erster Schritt, doch den Code hatte Young damit noch nicht geknackt. Jean-François Champollion, ein französischer Wissenschaftler, fand dann heraus, dass nicht nur die Symbole für Ptolemäus, sondern alle Hieroglyphen Wort-
und
Lautzeichen waren – sie hielten gleichsam
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