Eine große Zeit
Schriftsteller?«
»Ja. Er wohnt hier in der Nähe. Richtung Romney. Offenbar ist er ein großer Bewunderer meines Afrikabuchs. Er hat mich zur Feier seines sechzigsten Geburtstags eingeladen.«
»Jetzt kannst du ja mit dem Auto hinfahren.«
»Er hat mich aufgefordert, jemanden mitzubringen. Tatsächlich hat er dich erwähnt – den Schauspielerneffen. Er hat dich wohl auf der Bühne gesehen. Wärst du dazu bereit? Morgen in einer Woche.«
Lysander hatte dazu nicht die geringste Lust, aber er spürte, dass Hamo einiges daran lag, auch wenn er die Einladung so nebenher ausgesprochen hatte.
»Ja, wenn ich am Wochenende freihabe. Könnte ganz interessant werden.«
Hamo war sichtlich erfreut. »Lauter Literaten – grässlich. Ich brauche einfach moralische Unterstützung.«
»Von uns beiden bist du derjenige, der bereits ein Buch geschrieben hat, Hamo.«
»Ach – du bist doch der berühmte Schauspieler. Mich werden sie gar nicht zur Kenntnis nehmen.«
Am Sonntagabend fuhr Lysander nach London. Weil die Wohnung am Chandos Place noch immer untervermietet war, zog er in ein kleines Hotel – mit dem hochtrabenden Namen The White Palace – in Pimlico, nahe dem Fluss. Bis zum Parliament Square waren es knapp dreißig Minuten zu Fuß. Munro hatte ihn für Montagmorgen an einem Ort namens Whitehall Court einbestellt, ohne ihm zu verraten, wer außerdem dabei sein und worum es gehen würde.
Am Montagmorgen stellte Lysander dann fest, dass Whitehall Court zu jenen Londoner Gebäuden zählte, die ihm von fern schon unzählige Male aufgefallen waren, ohne dass er sich bemüht hätte, sie richtig zuzuordnen. Es sah aus wie ein riesiges französisches Renaissanceschloss – mit Mansarddächern und Türmchen und Tausenden von Zimmern – und beherbergte einen Herrenclub, ein Hotel sowie viele Etagen mit Apartments und Büros. Es lag ein gutes Stück von der Themse zurückgesetzt in einem eigenen Garten, zwischen der Waterloo Bridge und der Eisenbahnbrücke zur Charing Cross Station.
Ein livrierter Portier sah nach, ob Lysander ordnungsgemäß angemeldet war, bevor er ihm den Weg wies: Er solle in den letzten Stock hinaufsteigen, links durch eine Tür gehen, dann den Flur entlang, dort würde ihn jemand in Empfang nehmen. Als Lysander den Fuß auf die erste Stufe setzte, sah er, wie der Portier zum Telefonhörer griff.
Er wurde von Munro – in Zivil – empfangen, der ihn in ein schlichtes, nüchtern möbliertes Büro mit Blick auf die Themse führte. Dort wartete schon Massinger in Uniform und begrüßte Lysander etwas gezwungen, als hegte er noch immer Schuldgefühle wegen des beinah tödlichen Missverständnisses, das sein mangelhaftes Französisch verursacht hatte. An der Wand gegenüber den Fenstern stand ein großer Schreibtisch aus Walnussholz mit Ledereinlage. Der Stuhl dahinter war verwaist. Noch fehlte jemand, der offenbar höhergestellt war.
Die drei Männer setzten sich auf die anderen freien Stühle. Munro bot Getränke – Tee – an, was höflich abgelehnt wurde. Massinger fragte Lysander nach seinem Befinden und bekam zu hören, es gehe ihm wieder ziemlich gut, vielen Dank. Ein Zug ratterte über die Brücke von Charing Cross; auf sein Pfeifen hin öffnete sich, wie aufs Stichwort, die Tür und ein älterer grauhaariger Mann, seiner Uniform nach Kapitän zur See, trat humpelnd ein. Der harte Aufprall des linken Beins auf den Boden ließ Lysander vermuten, dass es sich um eine Prothese handelte. Der Mann wirkte freundlich, liebenswürdig. Vom Holzbein abgesehen hatte er nichts Außergewöhnliches an sich. Er wurde nicht namentlich vorgestellt.
»Das ist Leutnant Rief, Sir«, sagte Munro. »Derjenige, der in Genf so ausgezeichnete Arbeit geleistet hat.«
»Herausragender Einsatz«, warf Massinger herrisch ein. Lysander erinnerte sich, dass die Schweiz sein Gebiet war.
»Gratuliere«, sagte der Kapitän. »Sie sind also der Mann, der unser schwarzes Schaf ausfindig gemacht hat.«
»Gefunden haben wir es noch nicht, Sir«, erwiderte Lysander. »Aber wir ahnen, auf welcher Koppel es grast.«
Der Kapitän lachte leise vor sich hin.
»Wie wollen wir nun vorgehen?«, fragte er und sah dabei Munro und Massinger an.
»Das fällt eigentlich nicht in meine Zuständigkeit«, wehrte Massinger ab, und Lysander fragte sich nicht zum ersten Mal, wie es hier um die Hierarchie stand. Der Kapitän war eindeutig der Oberhäuptling, aber wie verhielt es sich mit Munro und Massinger? Wer von beiden agierte
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