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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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rächt sich, wie mir beim Schreiben nun klarwird. Meistens wirkt er so langweilig korrekt – der Berufssoldat, der Berufsdiplomat, ein überaus gepflegter, standesbewusster Mann, der sich bemüht, nicht allzu selbstgefällig und überlegen zu wirken. Doch das ist alles nur Fassade, um sein Gegenüber einzulullen. Ich weiß zwar nicht genau, was mich geritten hat, aber ich versuchte nun meinerseits, ihn zu testen, nachdem er mich mit dem ›Zubehör‹ herausgefordert hatte.
    »Ich wollte es den beiden lieber nicht anvertrauen«, antwortete ich. »Tatsächlich war es das Libretto einer unbekannten deutschen Oper.«
    »Ach was. Wie ist der Titel?«
    Ich musterte ihn eindringlich.
    »Andromeda und Perseus.«
    Munro runzelte die Stirn. »Ich fürchte, das sagt mir nichts«, erwiderte er mit der Andeutung eines Lächelns.
    »Das ist nicht weiter verwunderlich. Die Oper ist von Gottfried Toller. Wurde 1912 in Dresden uraufgeführt.«
    »Eine zeitgenössische Oper also. Das erklärt alles. Ich dachte an Lullys Persée .«
    Das jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken, und so beschloss ich auf der Stelle, Munro nicht mehr zu vertrauen, obwohl ich ihn mochte. Jeder, der sich 1913 in Wien aufhielt, musste von Tollers Andromeda gehört haben. Wirklich jeder – insbesondere jemand, dem Lullys Persée ein Begriff war. Warum hatte Munro gelogen? Warum belogen wir uns gegenseitig und lächelten uns dabei an? Wir standen doch auf derselben Seite.
    »Hat Glockner Ihnen sein Libretto gegeben?«
    »Ja. Dafür nahm er das Geld.«
    »Wo ist das Libretto jetzt?«
    »Ich habe es verloren. In dem ganzen Durcheinander, das auf die Schüsse folgte. Wahrscheinlich ist es in Évian in der Klinik liegengeblieben. Jedenfalls habe ich es seither nicht mehr gefunden.«
    Munro legte Messer und Gabel aus der Hand und schob seinen Teller beiseite.
    »Schade. Könnten Sie uns ein anderes Exemplar beschaffen? Vielleicht über Ihre Kontakte in der Theaterwelt?«
    »Ich kann es gern versuchen.«
    »Wollen wir noch ein Bier trinken? Um auf Ihre rasche Genesung anzustoßen.«

2. Ein Turner-Zweisitzer mit Klappdach
    Eine Woche später wurde Lysander aus dem Somerville College entlassen, und er beschloss, seinen Urlaub in Sussex zu verbringen, als Hamos Gast im Winchelsea-Cottage. Hamo hatte sich inzwischen ein Automobil gekauft – einen Turner-Zweisitzer mit Klappdach – , so dass sie gemeinsam Fahrten über die Downs unternahmen, nach Bexhill und Beachy Head, nach Dungeness und Sandgate in Kent, und sogar einen denkwürdigen Ausflug nach Canterbury, wo sie über Nacht blieben, ehe sie die Heimfahrt antraten. Zwischendurch begab sich Lysander auf Wanderungen, die stetig länger wurden, während er wieder zu Kräften kam und sein verletztes Bein stärker belasten konnte. Die Narbe am Oberschenkel war immer noch scheußlich anzusehen, unförmig und grellrot – bei der Suche nach den schwer fassbaren Münzen wurde viel Muskelgewebe weggeschnitten – , und nach seinen Wanderungen, die sich von einer halben über eine bis hin zu zwei Meilen steigerten, war das Bein steif und wund. Lysander hatte das Gefühl, dass ihm das dennoch guttat, während er seine alte Liebe zum Laufen aufs Neue entdeckte. Sobald er sicher genug war, warf er seinen Gehstock erleichtert weg.
    Am letzten Samstag vor Lysanders Rückkehr nach London fuhren Hamo und er zum Mittagessen nach Rye und gingen anschließend am Strand von Camber Sands spazieren. Sie bahnten sich ihren Weg dorthin durch Stacheldraht und behelfsmäßige Invasionssperren. Es war gerade Ebbe, und die ausgedehnte Sandfläche wirkte wie das Überbleibsel einer uralten, vollendeten Wüste, die an die Südküste von England gespült worden war, ungeheuer glatt und eben. Etwa eine Meile entfernt ließ jemand einen Drachen steigen, ansonsten hatten sie den riesigen Strand ganz für sich. Plötzlich blieb Lysander stehen – er glaubte, in der Ferne grollende Explosionen zu hören.
    »Das dringt doch nicht aus Frankreich zu uns?«, fragte er, wohl wissend, dass der große Angriff nun jederzeit erfolgen konnte.
    »Nein«, antwortete Hamo. »Es gibt einen Schießübungsplatz weiter oben an der Küste – für Geschützführer. Wie geht’s deinem Bein?«
    »Immer besser. Ich habe keine Schmerzen mehr, auch wenn ich es noch spüre, du kennst das.«
    Schweigend liefen sie weiter. In der Nachmittagsluft lag bereits ein Hauch von Kälte.
    »Sagt dir der Name Bonham Johnson etwas?«, fragte Hamo.
    »Der

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