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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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jemanden gebe. Lysander wollte dessen Namen erfahren, aber sie gab ihn nicht preis, und ihr Abschied war kühl, um nicht zu sagen bitter. Am nächsten Tag schickte er ihr Blumen.
    Kurz darauf arrangierte er für sich und vier seiner Schauspielerfreunde ein kleines Abendessen in einem Séparée des Hyde Park Hotels, ausschließlich in der Absicht, den Namen von Blanches neuem Verehrer herauszufinden. Alle wussten Bescheid, und zu Lysanders Schrecken stellte sich heraus, dass auch er ihn flüchtig kannte – es war James Ashburnham, ein recht erfolgreicher Dramatiker, für den er einmal vorgesprochen hatte. Ein Witwer Ende vierzig, ein gutaussehender Mann in den besten Jahren, der in Theaterkreisen als Schürzenjäger galt. Lysander fühlte sich zunächst betrogen und hintergangen, bis ihm bewusst wurde, dass er dazu kein Recht hatte – immerhin hatte er die Verlobung gelöst, nicht Blanche. Sie hatten beschlossen, Freunde zu bleiben, mehr nicht, daran musste Blanche ihn erinnern, und ihr Privatleben ging ihn nichts mehr an.
    Dass sie sich einen anderen gesucht hatte, verletzte ihn natürlich, und die Gefühle, die er ursprünglich für sie gehegt hatte, stellten sich wieder ein. Blanche war eine außergewöhnlich schöne, liebenswerte junge Frau, was sie einst miteinander verbunden hatte, ließ sich nicht so einfach abtun. Was dachte sie sich eigentlich bei dieser Affäre mit einem Stückeschreiber, der alt genug war, ihr Vater zu sein, oder doch fast? Verblüfft stellte Lysander fest, wie sehr er sich aufregte.
    Am Freitagmorgen klopfte Plumtree, das junge Zimmermädchen, an seine Tür und teilte Lysander mit, dass ihn ein Gentleman erwarte. Er ging mit leichtem Herzklopfen nach unten – nun wurde es ernst, das Stück wurde wiederaufgenommen, Orchester, Einsatz bitte. Fyfe-Miller war gekommen, schneidig in seiner Kommandantenuniform, einen Stapel Papiere unterm Arm. Bevor er sie auf dem Tisch ausbreitete, schloss er die Tür ab. Gemeinsam mit Munro hatte er die Informationsfülle in den entschlüsselten Glockner-Briefen analysiert, und sie waren beide zu der Überzeugung gelangt, dass im Kriegsministerium nur eine Abteilung dafür in Frage kam: die Verschickungsabteilung. Zurzeit war sie in einem Nebengebäude des Kriegsministeriums am Embankment untergebracht, in der Nähe der Waterloo Bridge. Dort sollte Lysander sich unverzüglich beim Abteilungsleiter melden, dem Oberstleutnant ehrenhalber Osborne-Way, der dafür sorgen würde, dass er ein eigenes Büro und ein Telefon bekäme. Er wurde für den Nachmittag erwartet – sie hatten keine Zeit zu verlieren.
    »Kann das nicht bis Montag warten?«, fragte Lysander klagend.
    »Ihnen ist offenbar nicht klar, dass wir uns mitten im Krieg befinden, Rief«, erwiderte Fyfe-Miller, diesmal ohne sein obligatorisches Grinsen. »Was haben Sie nur für eine Einstellung? Je früher wir diese Person ausfindig machen, desto sicherer werden wir alle sein.«
    Am Nachmittag um halb drei stand Lysander auf der Straßenseite gegenüber dem siebenstöckigen Gebäude, in dem sich die Verschickungsabteilung befand, etwa auf halbem Wege zwischen der Waterloo Bridge und der Charing-Cross-Eisenbahnbrücke. Die Nadel der Kleopatra ragte ein paar Meter zu seiner Linken auf. »Die Nadel im Heuhaufen suchen« kam ihm in den Sinn, was ihn nicht gerade zuversichtlich stimmte. Hinter ihm war die Themse, und er hörte das Wasser an die Piere und vertäuten Boote plätschern, während die Flut verebbte. Lysander sah gut aus in seiner neuen Uniform mit dem Messingstäbchen und den auf Hochglanz polierten, mit Schnallen bestückten Ledergamaschen, die vom Schuh bis zum Knie reichten. Er nahm die Mütze ab, strich sich die Haare glatt und setzte sie wieder auf. So nervös er war, wusste er genau, dass es nun vor allem darauf ankam, selbstsicher aufzutreten. Immer mit der Ruhe – zunächst einmal zündete er sich eine Zigarette an. Er hörte ein Flattern, und als er sich umdrehte, sah er eine große schwarze Krähe herabschießen und ein paar Meter von ihm entfernt auf dem Bürgersteig landen. Aus der Nähe erschien ihm der Vogel riesig – so groß wie ein kleines Huhn. Schwarzer Schnabel, schwarze Augen, schwarzes Gefieder, schwarze Beine. »Stadt der Geier und Krähen« hatte Shakespeare London irgendwo genannt. Lysander beobachtete, wie die Krähe auf ein Rosinenbrötchen zuhüpfte, das in den Rinnstein gefallen war. Sie pickte ein Weilchen daran und sah sich währenddessen wachsam um, bis ein

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