Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd

Vom Netzwerk:

Situation sehr geschickt ausgenutzt – genau wie Vandenbrook. Und am Ende hat er gewonnen. Bei so vielen Verdächtigen ist es unmöglich, sich auf einen zu konzentrieren – und das bedeutet, dass man den wahren Täter unter Umständen nie findet. Eine äußerst wirksame List. Und ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass der Fall irgendwie mit Wien zusammenhängt. Sie waren in Wien gewesen, Fyfe-Miller ebenso – und Massinger offenbar auch.
    MUNRO: Das stimmt, Massinger war in Wien. Genau wie Sie.
    LYSANDER: Richtig. Außerdem noch Hettie Bull. Und Dr. John Bensimon. Der Einzige, der nie in Wien gewesen ist, war Vandenbrook. Und das ist ihm schließlich zum Verhängnis geworden. Er war nie dort, aber er kannte Andromeda und Perseus . Mehr noch, er kannte den Umschlag der Wiener Ausgabe des Librettos. Glockners Dresdener Ausgabe hatte keinen »anrüchigen« Umschlag. Nur schwarze Lettern auf weißem Hintergrund. Ein winziger, fataler Fehler. Denn ich war der Einzige, der davon wusste. Wirklich der Einzige.
    Munro strich sich mit dem Finger über den adretten Schnurrbart, wie immer, wenn er intensiv nachdachte. Ich ahnte, dass er mir am liebsten einen Fehlschluss nachgewiesen hätte – als eine Art intellektuelle Ehrenrettung, weil er sich über meine Lösung des Falls ärgerte und sie nicht gelten lassen wollte.
    MUNRO: Die Glockner-Briefe wurden doch alle von London aus verschickt.
    LYSANDER: Ja.
    MUNRO: Sie behaupten also allen Ernstes, Vandenbrook habe die Briefe erst persönlich in diverse Hotels an die Südküste gebracht. Sie dort hinterlegt. Um sie dann am nächsten Tag von einem Dienstmann abholen und nach London zurückbringen zu lassen. Und sie dort am Ende verschlüsselt und nach Genf versandt.
    LYSANDER: Das war Teil seiner Tarnung. Er hatte das Ganze von A bis Z im Vorfeld durchdacht. Es musste schließlich alles zu seiner Erpressungsgeschichte passen, die im Kern darin bestand: Er, Vandenbrook, werde von einem anderen benutzt. Von einer anderen Andromeda, wenn Sie so möchten. In der Hierarchie weiter oben angesiedelt.
    MUNRO: Er hat sich tatsächlich große Mühe gegeben.
    LYSANDER: Und es hätte sich beinah für ihn ausgezahlt. Aber woher wussten Sie, dass die Glockner-Briefe in London abgestempelt wurden?
    MUNRO: Das haben Sie mir erzählt.
    LYSANDER: Wirklich? Meines Wissens nicht.
    MUNRO: Dann muss es wohl Madame Duchesne gewesen sein.
    LYSANDER: Muss wohl …
    MUNRO: Wie können Sie sicher sein, dass Vandenbrook Andromeda war?
    LYSANDER: Wie kann man sich generell einer Sache sicher sein? Für mich ist das die zwingendste Lösung. Die logischste. Die stichhaltigste. Vandenbrook war äußerst durchtrieben – nebenbei bemerkt auch ein begnadeter Schauspieler, weit besser als ich. Ich wünschte, ich hätte nur halb so viel Talent. Außerdem hatte er diese unsichtbare Macht kreiert, der er angeblich ausgeliefert war, und konnte sich als Bauernopfer ausgeben. Wie um zu sagen: Ich bin nicht derjenige, den Sie suchen. Ich bin nur ein kleiner Fisch. Der wahre Täter ist ein anderer. Ich habe ihm das eine Weile geglaubt, aber es war ein einziges Lügengespinst.
    MUNRO: Aber warum hat er dann versucht, diesen letzten Brief weiterzuleiten?
    LYSANDER: Das war der Auftakt seiner List. Als ich in die Abteilung kam, hat er sofort geahnt, wonach ich suche – und dass ich ihn unter allen potentiellen Verdächtigen ausfindig machen könnte. Darum hat er den längst ausgeheckten Notfallplan in die Tat umgesetzt. Natürlich hat er die Glockner-Briefe selbst codiert. Er hatte den Schlüsseltext. Aber er musste das Gegenteil vorgeben, um mich zu täuschen. Er konnte nicht vorhersehen, ob ich diesen letzten Brief finde oder nicht, aber er musste für alle Fälle vorsorgen.
    MUNRO: Ist das nicht ein bisschen zu sehr um die Ecke gedacht? Sogar für einen wie Vandenbrook?
    LYSANDER: Das können Sie besser beurteilen als ich, Munro. Um die Ecke zu denken ist schließlich ein konstitutiver Bestandteil Ihrer Welt, nicht wahr? Wie war das mit dem dreifachen Bluff? Dem vierfachen Bluff? Den vielfachen Finten? Den mannigfachen Täuschungsmanövern? Teil des Geschäfts. Warum fragen Sie nicht eine Expertin wie Madame Duchesne? Oder sich selbst, wenn wir schon dabei sind.
    Munro runzelte die Stirn, ohne auf die Frage einzugehen.
    LYSANDER: Sie sind immer noch nicht überzeugt.
    MUNRO: Je nachdem, wie die Angriffe im nächsten Sommer verlaufen, werden wir ja sehen, ob die undichte Stelle noch besteht oder nicht.
    LYSANDER: