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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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verteilt. Er nahm sich vor, einen schnellen Rundgang zu machen, Miss Bull zu grüßen, Hoff zu gratulieren und nach getaner Pflicht in die Nacht zu entschwinden.
    Auf den ersten Blick wirkte Hoffs Werk konventionell und mittelmäßig – Landschaften, Stadtansichten, das eine oder andere Porträt. Bei näherem Hinsehen entdeckte Lysander jedoch die eigenartigen, ausgeklügelten Lichteffekte. Eine Wiese mit Waldhintergrund schien in strahlendes Bogenlicht getaucht, die tiefschwarzen, messerscharf konturierten Schatten verliehen dem an sich banalen Motiv einen düsteren, apokalyptischen Anstrich, so dass man sich unwillkürlich fragte, welches lodernde Himmelslicht das unheimliche Leuchten hervorrief. Eine Sahara-Sonne, die auf ein nordeuropäisches Tal herabbrannte. Auf einem anderen Bild war der Sonnenuntergang so grell dargestellt, dass der Himmel in Verwesung begriffen schien. Bei einer Stadtansicht – Dorf im Schnee – fiel Lysander plötzlich auf, dass zwei Häuser weder Türen noch Fenster hatten und die Kirchturmspitze nicht mit einem Kreuz, sondern mit einem kreisrunden O versehen war. Welche Geheimnisse barg dieses harmlose kleine Dorf?
    Während Lysander sich im Ausstellungsraum umsah und nach diesen wirkungsvollen Störzeichen Ausschau hielt, stellte er fest, dass Hoffs subtil abweichende, zutiefst beunruhigende Sicht der Dinge ihn immer mehr beeindruckte. Die umfänglichste Arbeit war das lebensgroße Bild einer stark geschminkten Frau, die einen bestickten Kaftan trug und in einem Sessel saß: Porträt von Fräulein Gustl Cantor-De Castro . Auf den zweiten Blick zeigte sich, dass ihr Kaftan im Schoß aufgeknöpft war, so dass ihre Scham zum Vorschein kam. Die Pfeilspitze aus dunklem Haar hatte zunächst wie ein Teil des dekorativen Friesmusters auf dem reich bestickten Kaftan ausgesehen. Als Lysander bewusst wurde, was er da in Wirklichkeit betrachtete, war er zunächst aufrichtig schockiert. Der ausdruckslose Blick der hartgesichtigen Frau schien ausschließlich auf ihn gerichtet zu sein, so dass er entweder als Eingeweihter an ihrer Selbstentblößung beteiligt – nur für ihn hatte sie diese Stelle aufgeknöpft – oder bloß ein Voyeur war, auf frischer Tat ertappt.
    Er wandte sich ab und sah einen Kellner ein Tablett mit Weingläsern herumreichen. Lysander nahm sich ein Glas – Riesling, eine Spur zu warm – und zog sich in eine Ecke zurück, um die Leute zu beobachten, die offenbar lieber miteinander plauderten, als Udo Hoffs Werke zu würdigen. Er fragte sich, wer von ihnen Hoff war. Die Künstler waren leicht zu erkennen – es gab einen mit rasiertem Schädel, einen ohne Krawatte, auch einen bärtigen Kerl im vollgeklecksten Malerkittel, der geradewegs aus seinem Atelier gekommen sein musste. Hanebüchen, sich so offensichtlich von den anderen abzuheben, dachte Lysander, einfach stillos. Von Miss Bull war allerdings weit und breit nichts zu sehen.
    Er stellte sein leeres Glas auf einem Tisch ab und setzte seinen Rundgang an den mobilen Raumteilern fort. Was er dort erblickte, ließ ihn jäh, beinah slapstickhaft innehalten. Er hatte eine Trennwand umrundet, die auf einer Seite mit kleinen gerahmten Zeichnungen von Krügen und Flaschen vollgehängt war, um zu erkunden, was sich auf der anderen Seite befand, und stand nun vor der Skizze – der Originalvorlage – eines Theaterplakats: Eine fast nackte Frau, die Hände schützend um ihre Brüste gewölbt, während eine Art Drachen, ein riesiger Schuppenaal, sein derbes Haupt erhob und sie bedrohte – er hatte nur ein einziges, orange glühendes Auge und streckte seine gespaltene Schlangenzunge in Richtung ihrer Lenden aus. Die Beschriftung lautete: Andromeda und Perseus, eine Oper in vier Akten von Gottlieb Toller. Also hatte Udo Hoff das anstößige Plakat entworfen, dessen Fetzen Lysander überall in der Stadt hatte hängen sehen … Damit war schon mal ein Rätsel gelöst. Und es handelte sich um Perseus, nicht um Persephone.
    Lysander trat zurück, um sich eine bessere Übersicht zu verschaffen. Das Bild war in der Tat eine unerhörte Provokation. Der schuppige lange Hals und Kopf des Ungeheuers mit dem einsamen eitrigen Auge. Selbst der argloseste Bourgeois musste den Symbolgehalt zwangsläufig erkennen. Und die junge Frau, diese Andromeda, schien –
    »Haben Sie die Oper gesehen?« Die Stimme sprach Englisch – mit Manchester-Akzent.
    Lysander drehte sich um. Vor ihm stand Dr. Bensimon in Abendgarderobe – Frack und weiße Fliege –

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