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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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dürfte.
    Er schlenderte auf den spitzen Rathausturm zu. Dabei hörte er eine laute Stimme ertönen, und als er näher kam, sah er Hunderte von Menschen, die sich im kleinen Rathauspark zusammendrängten. Auf einem hölzernen Podium von etwa 1,80 Meter Höhe rief ein Mann herrische Worte durch sein Megaphon.
    Während die Tageshitze langsam abklang, rasten Automobile und Kraftomnibusse vorbei. Der Feierabendverkehr hatte eingesetzt. Wie Überbleibsel einer vergangenen Epoche klapperten Touristen in Pferdekutschen am Bordstein entlang. Allenthalben schlängelten sich Radfahrer durch den Verkehr. Lysander überquerte die Straße mit der gebotenen Vorsicht und schloss sich der murmelnden Menschenmenge an.
    Offenbar handelte es sich um Arbeiter, die sich in ihrer symbolträchtigen Kluft zu dieser Versammlung eingefunden hatten. Zimmermänner in Latzhosen, den Hammer am Gürtel befestigt, Steinmetze mit Lederschürzen, Automechaniker in Overalls, Chauffeure, die Lederhandschuhe und Doppelreiher trugen, Förster mit langen Handkettensägen. Es gab sogar eine Gruppe von mehreren Dutzend Minenarbeitern, schwarz vor Kohlenstaub, die Gesichter so dunkel verschmiert, dass die Zähne gelb wirkten und das Weiße im Auge verstörend hervorstach.
    Lysander trat noch näher heran, neugierig, eigenartig fasziniert von den schwarzen Gesichtern und Händen. Ihm wurde bewusst, dass er zum ersten Mal richtige Minenarbeiter sah, anders als bisher die Abbildungen in Büchern und Zeitschriften. Sie hörten dem Redner aufmerksam zu, der unaufhörlich über Stellen und Löhne blaffte, über slawische Gastarbeiter, die den rechtmäßigen Verdienst der österreichischen Arbeiter unterboten. Während seine Ansprache immer flammender wurde, begannen seine Zuhörer zu klatschen und zu johlen. Lysander wurde von einem Mann angerempelt, der sich höflich, ja wortreich bei ihm entschuldigte.
    Lysander drehte sich um. »Schon gut«, sagte er.
    Der Mann war jung, Anfang zwanzig, er trug einen grauen Filzhut, dem das Band abhandengekommen war, und seine langen dunklen Haare hingen über den Kragen. Sein Bart war schütter und ungepflegt. Trotz des schönen Wetters trug er einen kurzen gelben Umhang mit Gummibeschichtung. Darunter hatte er kein Hemd, wie Lysander nun sah – ein Landstreicher, ein Geisteskranker. Er dünstete den sauren Geruch der Armut aus.
    Bei einem neuerlichen Ausbruch des Redners johlte die Menge laut auf.
    »Die haben ja keine Ahnung«, schimpfte der Umhangträger. »Nichts als leere Worte, heiße Luft.«
    »Politiker«, sagte Lysander und verdrehte demonstrativ die Augen. »Alle gleich. Worte sind ja wohlfeil.« Nun fiel ihm auf, dass er allmählich Blicke auf sich zog. Wer war wohl dieser herausgeputzte junge Mann mit der getüpfelten Krawatte, der sich mit dem Irren unterhielt? Zeit zu gehen. Er ließ die Gruppe von Minenarbeitern hinter sich – schwarze Troglodyten, die ihren unterirdischen Höhlen entstiegen waren, um die moderne Metropole zu entdecken. Lysander spürte auf einmal die Idee zu einem Gedicht in sich heranreifen.
    Die Bosendorfer-Renz-Galerie lag in einer Seitenstraße des Graben. Lysander verharrte zunächst in einiger Entfernung, um sich zu vergewissern, dass tatsächlich Besucher hineingingen – die Anwesenheit von anderen würde ihm die nötige Sicherheit geben. Mit gezückter Einladung trat er auf die Tür zu, doch offenbar überprüfte niemand die Identität der Gäste, und so steckte er sie wieder ein und folgte einem älteren Ehepaar in Räumlichkeiten, die eher nach Antiquitätenladen als nach Kunstgalerie aussahen. Im kleinen Schaufenster standen ein paar aufwendig geschnitzte Stühle und ein holländisches Stillleben auf einer Staffelei (Äpfel, Trauben und Pfirsiche, dazu die unvermeidliche, effektvoll platzierte Fliege). Hinter dem ersten Raum lockte ein hell erleuchteter Durchgang, aus dem ein zunehmendes Stimmengewirr drang. Lysander holte tief Luft und steuerte darauf zu.
    Es war ein großer Saal mit hoher Decke, womöglich eine umgewidmete Lagerhalle, von drei elektrischen Kronleuchtern erhellt. Langgezogene Trennwände aus Holz, auf kleine Räder montiert, unterteilten den Raum. Es herrschte rege Betriebsamkeit, vierzig bis fünfzig Gäste waren bereits eingetroffen, wie Lysander erfreut zur Kenntnis nahm – er konnte sich in der Menge verlieren. Hoffs Leinwände hingen von einer hohen Bildleiste herab; hier und da waren kleine Skulpturen und Maquetten auf schmale, brusthohe Plinthen

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