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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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, mit frisch gestutztem und getrimmtem Bart. Er gab ihm die Hand. Lysander war seltsam berührt, seinen Arzt hier zu sehen, außerhalb des üblichen Rahmens. Dann fiel ihm ein, dass auch Miss Bull seine Patientin war.
    Bensimon erging es offenbar nicht anders. »Hätte nie damit gerechnet, Sie hier anzutreffen, Mr Rief. Als ich Sie sah, traute ich meinen Augen nicht.«
    »Miss Bull hat mich eingeladen.«
    »Ach. Das erklärt natürlich alles.« Bensimon deutete auf das Plakat. »Die Oper wurde nur drei Mal in Wien aufgeführt – in einem Kabarett namens Hölle . Ja, wirklich. Kein anderes Theater wollte es wagen. Und dann wurde die Inszenierung von der Obrigkeit abgesetzt.«
    »Abgesetzt? Warum?«
    »Wegen grober Unschicklichkeit. Ich für mein Teil hätte sie allein wegen der Musik abgesetzt. Unerträglich kreischende Atonalität. Als spielte Richard Strauss verrückt.« Bensimon lächelte. »Altmodisch bin ich nur in einer Hinsicht – was die Musik angeht. Ich schätze schöne Melodien.«
    »Und was war daran so unschicklich?«
    »Miss Bull.«
    »Hat sie etwa mitgesungen?«
    »Nein, das nicht. Aber sie hat die Andromeda gegeben, wenn man so will. Ist Ihnen die Ähnlichkeit auf dem Plakat nicht aufgefallen? Sie kennen den Mythos: Andromeda ist am Meeresufer an einen Felsen gekettet, als Sühneopfer für das Seeungeheuer Ketos. Perseus kommt vorbei, tötet Ketos, befreit Andromeda, heiratet sie und so weiter und so fort. Tja, und die Sopranistin, die Andromeda spielen sollte – ihr Name tut nichts zur Sache –, hätte man leicht für einen Schwergewichtsboxer halten können. Darum verfiel Toller auf die Idee, für die Szene mit dem angreifenden Ungeheuer ein Andromeda-Double einzusetzen – unsere Miss Bull. Dazu gab es ein tatsächlich sehr beeindruckendes Schattenspiel – das Ungeheuer wurde nach orientalischer Art auf die Rückwand projiziert –, es war enorm. Perseus stand vorne auf der Bühne und sang eine nicht enden wollende Tenorarie – gefühlte zwanzig Minuten – , während Andromeda in höchster Gefahr schwebte. Hinter den Kulissen jaulte und schrie die Sopranistin. Eine einzige Kakophonie, anders kann man das nicht nennen.«
    »Was war denn so unschicklich an Miss Bulls Verkörperung der Andromeda?«, fragte Lysander neugierig.
    »Sie war splitterfasernackt.«
    »Oh. Verstehe. Dann … «
    »Nun ja, sie hatte so einen halb durchsichtigen Gazestreifen um. Dennoch blieb der Phantasie nichts überlassen.«
    »Ganz schön mutig.«
    »An Wagemut fehlt es unserer Miss Bull nicht. Aber Sie können sich den Skandal vorstellen. Das Getöse. Das Theater wurde geschlossen, jedes Plakat in Fetzen gerissen. Dem armen Toller wurde alles Mögliche zur Last gelegt – Sittenlosigkeit, Obszönität, Pornographie. Sie haben ihn jedes erdenklichen Verbrechens bezichtigt.« Bensimon zuckte mit den Schultern. »Und so hat er sich eben umgebracht.«
    »Wie bitte?«
    »Ja. Er hat sich gleich an Ort und Stelle aufgehängt – in der Hölle . Ein höchst dramatischer Abgang. Und traurig, natürlich.«
    Beide ließen das Plakat eine Weile stumm auf sich wirken. Die Ähnlichkeit mit Miss Bull war unbestreitbar, wie Lysander nun erkannte, als er nicht mehr Andromedas nackten Körper, sondern ihr Gesicht betrachtete.
    »Ich muss jetzt los«, erklärte Bensimon. »Zu einem hochoffiziellen Diner, darum habe ich mich so in Schale geworfen. Dutzende von Ärzten, ich kann mein Glück kaum fassen. Haben Sie Miss Bull schon gesehen?«
    »Nein«, sagte Lysander. Sie blickten sich im überfüllten Saal um. Plötzlich sah er sie – ihre zierliche kleine Gestalt. »Da ist sie.« Er zeigte in ihre Richtung.
    »Wir sollten ihr guten Tag sagen«, regte Bensimon an, und sie bahnten sich einen Weg quer durch den Raum.
    Miss Bull war von drei Männern umgeben. Lysander stellte fest, dass sie eine kirschrote Pluderhose im Haremstil trug, ein Bolerojäckchen aus schwarzem Satin mit Strassknöpfen sowie einen Kragen mit Krawatte. Ihre Haarmassen hatte sie mit unzähligen Schildpattkämmen locker aufgesteckt. Von ihrer Schulter hing eine kleine bestickte Tasche an einer geflochtenen Kordel, die ihr fast bis zu den Knien reichte. Als sie sich umdrehte, um ihn und Bensimon zu begrüßen, hörte Lysander in Bodennähe ein leises Klimpern und senkte den Blick: An ihre Schuhspitzen waren silberne Glöckchen genäht. Bensimon verabschiedete sich und ging. Miss Bull wandte sich Lysander zu. Diese riesigen braungrünen Augen.
    »Wie finden Sie Udos

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