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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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sich ihre Blicke trafen, sah Hoff ihn an wie einen Fremden.
    Gleich nach Mitternacht führte Hettie ihn durch einen dunklen Gang, der mit Mänteln, Schals und Hüten vollgehängt war. Dort küsste sie ihn, die Zunge tief in seinem Mund, während er die Hände auf ihre Brüste legte. Sekunden später ging das Licht an und Hoff tauchte auf, allem Anschein nach sturzbetrunken. Hettie wühlte zwischen den Mänteln herum.
    »Ach, da bist du ja, Liebling. Mr Rief geht gerade – er wollte nur kurz vorbeischauen.«
    »Mit Licht sucht es sich leichter.«
    »Mr Rief hat den Schalter nicht gefunden.«
    Lysander gab Hoff die Hand. Nun sah ihn der Maler durchdringend, wenn auch etwas unstet an.
    »Danke für dieses wunderbare Fest«, sagte Lysander.
    »Sie sind doch dieser Engländer, stimmt’s?«
    »Ja, der bin ich.«
    »Ich wünsche Ihnen ein gutes neues Jahr. Wie kommen Sie mit Ihrer Therapie voran?«
    »Ich bin praktisch geheilt – ja, das ist wohl objektiv der Fall.«
    Hoff gratulierte Lysander, dann bat er Hettie, mit ihm für Champagnernachschub zu sorgen. Sobald er ihnen den Rücken kehrte, hauchte Hettie Lysander einen Kuss zu, bevor sie Hoff folgte. Nach fünf Minuten machte Lysander endlich seinen Hut und Mantel ausfindig und verließ das Haus, immer noch zitternd, weil er so knapp davongekommen war. Eine Liebesaffäre bildete keineswegs einen Bogen, wie er einmal gehört hatte, sondern schlug immer wieder aus – wie eine Wellen- oder Zickzacklinie in einer Graphik. Sie verlief alles andere als gleichmäßig, selbst wenn man tagtäglich seine Freude daran hatte. Er lief die Auffahrt hinunter. Es schneite dicke weiche Flocken, der Weg zum Bahnhof wurde zusehends weißer, von Radspuren unberührt, Stille hüllte die Welt ein, als die letzten fernen Glocken weiterhin das Jahr 1914 einläuteten.
    »Sie haben wohl recht«, sagte Bensimon. »Wir haben alles getan, was getan werden konnte – mit der gebotenen Gründlichkeit. Betrachten wir den Fall als abgeschlossen.«
    »Ich kann Ihnen gar nicht genug danken, Herr Doktor. Ich habe so viel gelernt.«
    »Sie sind fest davon überzeugt, dass das Problem vollständig und nachhaltig gelöst ist?«
    Lysander zögerte – manchmal fragte er sich, ob Bensimon überhaupt ahnte, dass Hettie Bull seine Geliebte war. Wie sollte er ihm erzählen, dass Hettie ihm viele Dutzend Male die nachhaltige Lösung seines Problems bewiesen hatte? Schließlich war sie immer noch seine Patientin.
    »Sagen wir mal, ich weiß aus jüngster Erfahrung – jüngsten Erfahrungen – mit Bestimmtheit, dass alles bestens funktioniert.«
    Bensimon lüpfte ganz kurz seine undurchdringliche professionelle Maske und lächelte – von Mann zu Mann.
    »Ich freue mich, dass Wien Ihnen noch anderes zu bieten hatte«, sagte er trocken, während er Lysander zur Tür geleitete. »Ich würde gern über Ihren Fall schreiben, wenn Sie nichts dagegen haben – die Heilung einer Anorgasmie verdient es, dokumentiert zu werden –, und ihn bei unserer nächsten Tagung vortragen, vielleicht auch in einer Fachzeitschrift publizieren.« Lächelnd fügte er hinzu: »Keine Sorge, Ihre Identität wird durch die Verwendung eines Initials oder Pseudonyms wirksam geschützt. Außer uns beiden wird niemand wissen, von wem die Rede ist.«
    »Ich würde Ihren Vortrag gern lesen«, sagte Lysander. »Ich lasse Ihnen meine Adresse da – die Adresse vom Familiensitz, so kann man mich immer erreichen.«
    Er schüttelte Bensimon die Hand und dankte ihm aufs Neue. Er mochte den Arzt, dem er seine intimsten Geheimnisse erzählt hatte, und hielt ihn für absolut vertrauenswürdig – dennoch musste er sich eingestehen, dass er den Mann im Grunde nicht kannte.
    Danach beglich er die letzten offenen Rechnungen bei der gestrengen Sprechstundenhilfe, die ihm ein knappes Lächeln schenkte, als er ihr zum Abschied die Hand gab, und ging den inzwischen vertrauten Weg von der Praxis in der Wasagasse zum Franzensring. Zum letzten Mal, wie er leicht betrübt feststellte, doch zugleich auch erfreut, weil er das wichtigste Ziel seines Wienaufenthalts erreicht hatte. Hatte Wolfram nicht vom »Strom der Lust« gesprochen, der unterschwellig durch die Stadt floss? Das war seine Rettung gewesen – das und Dr. Bensimons Parallelismus. Es ging ihm gut, nun müsste das Leben eigentlich einfacher, die Richtung klar sein, und doch gestaltete sich alles um einiges komplexer, seit er hier war. In Wien gab es Hettie, in London Blanche, und er hatte nicht die

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