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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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frostig, und der Neujahrsschnee wurde zu Matsch; Automobilreifen spritzten die braune Brühe an die Beine der Fußgänger, die sich zu nah an die Fahrbahn heranwagten.
    Während er sorgfältig auf den Verkehr achtete, fragte sich Lysander nicht zum ersten Mal, ob er Autofahren lernen sollte. Vielleicht würde er seine Wiener Erziehung damit vervollständigen – aber dann fiel ihm ein, dass er sich gar keine Fahrstunden leisten konnte. Gerade hatte er Frau K die nächste Monatsmiete im Voraus entrichtet, und ihm blieben noch knapp hundert Kronen. Den Deutsch- und Französischunterricht hatte er bis auf weiteres abgesagt und seine Mutter wieder einmal per Telegramm um Geld gebeten. Das behagte ihm nicht – warum sollte seine Mutter seine Liebesaffäre mit Hettie unterstützen? Er musste einsehen, dass er die vergangenen Wochen in einer Art selbstgewählten Seifenblase verbracht hatte, ohne Entscheidungen zu treffen, er hatte sich einfach treiben lassen und für den Augenblick gelebt. Das Problem, dem er sich nun stellen musste, da ihm das Geld ausging und eine Rückkehr nach London unausweichlich wurde, war, dass er sich eine Zukunft ohne Hettie kaum vorstellen konnte. War das vielleicht der Anfang? Starke sexuelle Anziehung, die sich in Liebe verwandelte? Dabei hatte sie in diesen vielen Wochen kein einziges Mal davon gesprochen, Hoff zu verlassen, trotz aller ausgetauschten Zärtlichkeiten und gegenseitigen Liebesbekundungen.
    Was sollte er tun? Er zwängte sich durch die Schwingtür des Café Sorgenfrei und stieß den schweren Samtvorhang, der die Zugluft abhalten sollte, mit dem Ellbogen beiseite. Dicke Rauchschwaden hingen in der Luft und ließen seine Augen tränen, als er zum Tresen ging, um seinen Umschlag abzugeben. Dahinter stand der junge Barmann – wie hieß er doch gleich? – mit seiner braunroten Weste und dem albernen Dragoner-Backenbart.
    »Guten Tag, Herr Rief«, sagte er, als er Lysanders Brief entgegennahm. »Und ich habe hier ein Päckchen für Sie.« Er holte ein flaches, mit Bindfaden verschnürtes Paket unter dem Tresen hervor. Lysander verspürte einen Anflug von Freude. Offenbar hatten sie gleichzeitig aneinander gedacht. Er bestellte ein Glas Riesling und trug das Päckchen zu einem Tisch am Fenster. Behutsam packte er etwas aus, das sich als Libretto entpuppte. Andromeda und Perseus. Eine Oper in vier Akten von Gottlieb Toller. Den Umschlag zierte eine farbige Reproduktion von Hoffs Plakat – Hettie in ihrer ganzen Nacktheit … Er blätterte die Seiten durch, um die ersehnte Nachricht zu finden, und als kein loser Zettel herausfiel, blätterte er zur Titelseite zurück, auf der Suche nach einer Widmung. Da stand sie: »Für Lysander. In Liebe. Andromeda.« Und darunter las er folgende säuberlich untereinander geschriebene Zeilen:
    Manchmal bin ich sehr zuversichtlich, was das Schicksal von HB angeht
    Aber dann gibt es Momente, in denen mir klarwird, dass ich
    nicht ganz aufrichtig bin
    Oberflächlich
    Doppelzüngig
    Feige
    Lysander fragte sich, warum er seinen eingeschränkten finanziellen Mitteln zum Trotz den Aufschlag von zwei Kronen bezahlt hatte, um an diesem Abend mit Frau K und Josef Plischke zu speisen. Vielleicht hatte er sich bloß nach ein wenig Gesellschaft gesehnt, und sei sie noch so glanzlos und ermüdend. Der Hauptgang – nach der obligatorischen Kohlsuppe mit Croûtons – war Tafelspitz , Fleisch von einem uralten Rindvieh, Lysanders Ansicht nach, das schon vor Tagen gekocht worden war und seither auf einer Herdplatte in der unsichtbaren Küche endlos vor sich hin schmoren durfte. Dennoch war die Brühe wässrig und das Fleisch sehnig und zäh. Plischke aß mit großem Appetit und lobte Frau K’s Kost in höchst kriecherischen Tönen, die ihr ein dünnes Lächeln entlockten, das angenehmste, zu dem sie imstande war.
    Während die beiden sich über eine Luftschau mit einem Dutzend Flugmaschinen unterhielten, die im Sommer in Aspern stattfinden sollte, rechnete Lysander im Kopf seine Finanzen durch – vor zwei Tagen hatte er seiner Mutter telegraphiert, um sie um weitere zwanzig Pfund zu bitten. Mit etwas Glück würde die Summe morgen auf seinem Konto eintreffen und mit noch etwas mehr Glück und äußerster Sparsamkeit dürfte er damit noch ein oder zwei Monate auskommen. Wie es dann weitergehen sollte, wenn er erneut auf dem Trockenen saß, blendete er lieber aus. Vielleicht sollte er sich Arbeit suchen – könnte er den Wienern nicht Englisch beibringen? Zwei

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