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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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geringste Ahnung, was er tun sollte.
    Er hatte gerade das stattliche Café Landtmann passiert, als ihm auffiel, dass er es in den vielen Monaten noch kein einziges Mal betreten hatte, und so lief er zurück. Es war riesig und gar nicht so schön, der Glanz alter Zeiten verblasst, aber pompöser als die Cafés, die er gewöhnlich aufsuchte – hier kam man am besten im Sommer hin, dachte er, und setzte sich dann auf die Terrasse. Er wählte eine Nische mit freier Sicht auf den Verkehr, der draußen auf dem Ring vorbeirauschte, zündete sich eine Zigarette an, bestellte Kaffee und Cognac und schlug sein Notizbuch auf. Autobiographische Untersuchungen von Lysander Rief. Er blätterte die Seiten durch, viele Notizen, Traumbeschreibungen, ein paar Skizzen, Gedichtentwürfe – auch das hatte er seinem Wienaufenthalt zu verdanken. Bensimon hatte ihm dringend ans Herz gelegt, das Buch als Bestandteil der Therapie weiterzuführen. »Das kommt Ihnen vielleicht etwas nichtssagend und müßig vor«, waren Bensimons Worte, »aber wenn Sie es sich nach einigen Monaten wieder vornehmen, wird es Sie faszinieren.«
    Das Café war ruhig, es herrschte die typische Flaute zwischen der regen Mittagszeit, die die Wiener in Ehren hielten, und dem Eintreffen der ersten Nachmittagsgäste, die Kaffee und Kuchen wünschten. Einige Kellner polierten Besteck und falteten Servietten, andere breiteten saubere Leinendecken über die Tische oder lehnten schwatzend am Serviertresen. Aus dem Hintergrund drang das Scheppern von Tellern, die aufgestapelt wurden. Der Oberkellner kämmte sich diskret die Haare, als Spiegel diente ihm ein Silbertablett, das gegen die Wand gestützt war. Lysander blickte sich um – es waren wirklich kaum Gäste da – , aber dann fiel ihm ein Mann ins Auge, der wenige Tische entfernt saß, er trug einen Tweedanzug und einen altmodischen Krawattenschal, las Zeitung und rauchte eine Zigarre. Lysander schätzte ihn auf Ende fünfzig. Die dünnen ergrauenden Haare waren glatt gekämmt, der schneeweiße Bart akribisch gestutzt. Lysander legte sein Notizbuch weg und schlenderte zu dem Mann hinüber.
    »Herr Dr. Freud«, sagte er, »verzeihen Sie bitte die Störung, aber ich wollte Ihnen gern einmal die Hand geben. Einer Ihrer glühendsten Anhänger, Dr. Bensimon, hat mich mit dem denkbar größten Erfolg behandelt.«
    Freud hob den Kopf, legte die Zeitung zusammen und stand auf. Die beiden Männer begrüßten sich mit Handschlag.
    »Ach ja, John Bensimon, mein anderer Engländer«, sagte Freud. »Wir hatten durchaus unsere Meinungsverschiedenheiten, aber er ist ein tüchtiger Mann.«
    »Ich weiß ja nicht, wo Ihre Differenzen lagen, aber dank ihm habe ich äußerst fruchtbare psychoanalytische Sitzungen erlebt. So habe ich auch erfahren, wie sehr er Sie verehrt – er bezieht sich ständig auf Sie.«
    »Sind Sie Engländer?«
    »Ja. Halb Engländer, um genau zu sein. Und halb Österreicher.«
    »Das erklärt Ihr hervorragendes Deutsch.«
    »Danke.« Lysander trat aus Rücksicht einen Schritt zurück. »Es war mir eine Ehre, Ihnen die Hand zu drücken. Nun möchte ich Sie aber nicht länger von Ihrer Zeitungslektüre abhalten.«
    Freud schien jedoch noch nicht geneigt, das Gespräch zu beenden. Er wedelte kurz mit seiner Zigarre, um Lysander zum Bleiben zu bewegen.
    »Wie lange waren Sie bei Dr. Bensimon in Behandlung?«
    »Mehrere Monate.«
    »Und jetzt ist die Behandlung vorbei?«
    »Zumindest aus meiner Sicht. Ich bin der Meinung, dass mein psychosomatisches Problem endgültig gelöst ist.«
    Freud zog nachdenklich an seiner Zigarre. »Das ging ja schnell«, sagte er. »Ich bin beeindruckt.«
    »Seine Parallelismus-Theorie verhalf mir schließlich zum Durchbruch. Ein bemerkenswerter Ansatz.«
    »Oh, Parallelismus«, sagte Freud geradezu spöttisch. »Dazu äußere ich mich lieber nicht. Guten Tag. Leben Sie wohl.«
    Der große Mann höchstpersönlich, dachte Lysander, als er an seinen Tisch zurückkehrte. Er war froh, dass er den Mut gehabt hatte, ihn anzusprechen. Das war nun wirklich eine Jahrhundertbegegnung.
    Er hatte Hettie seit vier Tagen nicht gesehen und vermisste sie furchtbar. Er rechnete nach – tatsächlich hatte er sie eine ganze Woche nicht gesehen … Seit Beginn ihrer Affäre waren sie noch nie so lang getrennt gewesen. Er schrieb ihr schnell ein Briefchen und machte sich umgehend auf den Weg ins Café Sorgenfrei. Vielleicht hatte auch sie ihm dort eine Nachricht hinterlassen. Draußen war es kalt, aber nicht

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