Eine große Zeit
Munro.
»Wir wissen alle, wie leicht etwas schiefgehen kann.«
»Sie wollen also die Flucht ergreifen«, sagte Fyfe-Miller und zündete sich eine Zigarette an. Nicht zum ersten Mal stellte Lysander fest, dass hinter der ausdruckslosen Fassade ein wacher Geist steckte.
»Genau.«
Die beiden Attachés wechselten einen Blick. Munro lächelte.
»Wir haben heimlich darum gewettet, wie lange Sie brauchen würden, um zu dieser Einsicht zu gelangen.«
»Ich sehe keinen anderen Ausweg.«
»So einfach ist das aber nicht«, sagte Munro und erklärte, wo die Schwierigkeiten lagen. Wie jede andere Botschaft in Wien war auch die Britische Botschaft von Spitzeln durchsetzt. Von den österreichischen Mitarbeitern stand seinen Schätzungen zufolge jeder Dritte im Sold des Innenministeriums. Das sei ganz natürlich und nicht anders zu erwarten, fügte er hinzu – in London ginge es schließlich genauso zu.
»Das heißt«, fuhr er fort, »es würde sofort auffallen, wenn Sie uns abhandenkämen. Sie stehen die ganze Zeit unter Beobachtung, auch wenn es nicht den Anschein hat. Jemand würde gleich die Polizei benachrichtigen.«
Fyfe-Miller schaltete sich ein. »Außerdem wären wir als Ihre Wärter verpflichtet, Ihre Flucht umgehend bei den Obrigkeiten anzuzeigen. Und die Kaution würden Sie natürlich verlieren.«
Daran wollte Lysander lieber nicht denken. »Und wenn ich mich mitten in der Nacht davonschliche? Dann würde es doch Stunden dauern, bis mein Fehlen bemerkt wird.«
»Im Gegenteil. Mitten in der Nacht ist die gefährlichste Zeit. Die Wachleute, die Polizisten, das Nachtpersonal – nachts sind sie alle besonders aufmerksam. Ich bin mir ziemlich sicher, dass draußen vor dem Tor ein paar Polizisten in Zivil postiert sind, Tag und Nacht sitzen sie in einem Automobil auf der Lauer. Mitten an einem Werktag wäre viel unauffälliger.« Munro lächelte. »So merkwürdig es klingt.«
»Wenn Sie fliehen«, überlegte Fyfe-Miller laut, »hätten Sie höchstens eine Stunde Vorsprung. Wenn Sie bis dahin niemand angezeigt hat, müssten wir es tun – nach einer Stunde.«
»Rechnen Sie besser nur mit einer Viertelstunde Vorsprung«, sagte Munro. »Die sind nicht auf den Kopf gefallen.«
»Wo würdest du hinfliehen, Alwyn?«, fragte Fyfe-Miller betont beiläufig.
»Nach Triest. Damit ist man praktisch schon in Italien – dort hasst man die Kakanier. Ja, ich würde nach Triest fliehen und mit dem Dampfer nach Italien übersetzen.«
Lysander war der verborgene Sinn dieses Austauschs nicht entgangen. Nun wusste er mit Sicherheit, was hier gespielt wurde: Munro und Fyfe-Miller erstellten gerade einen Plan, gewissermaßen einen Leitfaden, dem er nur zu folgen brauchte. Tu, wie dir geheißen, lautete die geheime Botschaft, dann wird alles gutgehen.
»Wo fahren die Züge nach Triest eigentlich ab?«, fragte er ebenso betont beiläufig.
»Vom Südbahnhof aus. In Graz muss man umsteigen. Die Fahrt dauert insgesamt etwa zehn bis zwölf Stunden«, antwortete Fyfe-Miller.
»In Triest würde ich gleich zum Lloyds-Büro gehen und mir eine Dampferkarte nach … « Munro runzelte nachdenklich die Brauen.
»Auf keinen Fall Venedig.«
»Nein. Das wäre zu offensichtlich. Vielleicht nach Bari – jedenfalls viel weiter südlich, als man erwarten würde.«
Lysander schwieg, nur zu gern begnügte er sich damit, den beiden zuzuhören und sich seinen Teil zu denken.
Munro erhob einen warnenden Zeigefinger. »Man muss davon ausgehen, dass die Polizei als Erstes jeden Bahnhof absucht.«
»Stimmt. Man müsste sich also auf die ein oder andere Weise verkleiden. Natürlich würde die Polizei vermuten, dass es nach Norden gehen soll, Richtung England. Darum ist es ratsam, gen Süden zu fahren.«
»Ohne Geld käme man nicht weit«, sagte Munro, zückte seine Brieftasche und entnahm ihr zweihundert Kronen, die er fächerartig auf dem Tisch anordnete. »Was haben wir heute für einen Tag? Dienstag. Morgen Nachmittag wäre gut. Dann wäre man Donnerstag früh in Triest.«
»Und das Ganze hätte sich erledigt.«
Die beiden Männer sahen Lysander offen an, ohne das geringste Anzeichen von Verschwörung oder Heimlichtuerei im Blick. In dieser bewussten Arglosigkeit steckte wieder eine Botschaft – das hier ist nur eine Plauderei. Eine Plauderei über eine rein hypothetische Reise – mehr nicht. Wir übernehmen keinerlei Verantwortung.
»Das Risiko ist hoch«, sagte Munro, als wollte er die implizite Botschaft noch untermauern.
»Wenn man Sie
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