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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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schnappt, kommt das praktisch einem Schuldeingeständnis gleich«, fügte Fyfe-Miller hinzu.
    »Sie müssten sehr umsichtig vorgehen. Vorausschauend denken. Verschiedene Möglichkeiten durchspielen – auf alles gefasst sein.«
    »Lassen Sie sich etwas einfallen.«
    Munro stand auf und ging zur Tür, Fyfe-Miller folgte ihm. Das Geld blieb auf dem Tisch liegen.
    Lysander öffnete ihnen die Tür. Nun wusste er genau, was von ihm erwartet wurde.
    »Es war sehr interessant, mit Ihnen zu plaudern. Danke.«
    »Wir sehen uns morgen«, antwortete Munro. Fyfe-Miller salutierte stramm, und Lysander blickte den beiden hinterher, während sie im fallenden Schnee zum Konsulat zurückeilten.
    Als das Schneegestöber am späteren Nachmittag nachgelassen und die niedrigen Buchsbaumhecken des Parterre mit einer dicken weißen Glasur überzogen hatte, ging Lysander eine Weile im Garten spazieren. Er dachte fieberhaft nach. Das Geld hatte er in der Tasche, Munro und Fyfe-Miller hatten den besten Fluchtweg skizziert. Sobald er Triest erreichte, wäre er in Sicherheit – dort gab es zwanzig Mal mehr Italiener als Österreicher. Für ein paar Kronen würde ihn ein Trampdampfer oder Frachter nach Italien bringen. Plötzlich fiel ihm etwas Unerwartetes ins Auge – ein Funkeln, ein Blitzen. Er schlenderte zur kleinen Gartentür.
    Im Türschloss steckte ein nagelneuer Messingschlüssel, dessen makellose polierte Oberfläche im schwachen letzten Sonnenlicht glänzte. Lysander steckte ihn ein. Es konnte also losgehen – morgen nach dem Mittagessen würde er den Befreiungsschlag wagen.

24. Einfallsreichtum
    Lysander ließ die Hälfte seines Mittagessens – geschmortes Schweinefleisch mit Meerrettich – absichtlich auf dem Teller liegen. Als der sauertöpfische Diener mit den vorstehenden Zähnen das Tablett abräumte, erklärte Lysander, er fühle sich nicht wohl und werde sich später hinlegen. Kaum war er wieder allein, zog er seinen Mantel an, sammelte die wichtigsten Dinge ein, die er in seinen diversen Taschen verstauen konnte, nahm seinen Hut vom Türhaken und ging hinaus.
    Es war ein windiger Tag mit tief treibenden Wolken, und der Schnee war beinah zur Gänze geschmolzen. Lysander drehte eine Runde im Garten, um den Anschein zu erwecken, es handle sich um seinen üblichen Spaziergang nach dem Essen. Als er die kleine Tür an der hinteren Gartenmauer erreichte, schloss er sie blitzschnell auf, schlüpfte hindurch und schloss sie von außen wieder ab. Den Schlüssel warf er über die Mauer in den Garten zurück. Er blickte sich um – eine unbekannte Seitenstraße im 3. Bezirk, einem Teil von Wien, mit dem er nicht vertraut war. Als er zur nächsten Hauptstraße vorstieß, sah er, dass es sich um den Rennweg handelte und fand die Orientierung wieder. Er war etwa fünf Gehminuten vom Südbahnhof entfernt, wo er in den Zug nach Triest springen könnte – aber zuerst musste er sich etwas einfallen lassen. Vor der Hof- und Staatsdruckerei standen zwei Fiaker. Lysander lief über den Rennweg, um einen herbeizuwinken.
    Binnen einer Viertelstunde war er in der Mariahilfer Straße. Das entsprach genau dem Vorsprung, mit dem er laut Munro und Fyfe-Miller rechnen durfte. Er könnte längst am Südbahnhof sein, die Fahrkarte nach Triest schon in der Hand. Machte er gerade einen Fehler? Lassen Sie sich etwas einfallen, hatte Munro gesagt. Es war wohl weniger als Ratschlag denn als Warnung gemeint.
    Mit einem Stoßgebet klingelte Lysander an der Tür der Pension Kriwanek. Möge Frau K außer Haus (nach dem Mittagessen erledigte sie für gewöhnlich Einkäufe oder Besuche) und Herr Barth im Haus sein.
    Traudl öffnete ihm die Tür. Sein Anblick überraschte und verstörte sie derart, dass sie bis zum Haaransatz rot wurde.
    »O Gott!«, sagte sie. »Herr Rief! Das kann nicht sein!«
    »Grüß dich, Traudl. Doch, ich bin’s. Ist Frau Kriwanek da?«
    »Nein. Was suchen Sie hier, mein Herr?«
    »Ist Herr Barth da?«
    »Nein. Er ist auch nicht da.«
    Glück und Pech gehabt, dachte Lysander und zwängte sich sanft an Traudl vorbei in die Diele. Dort standen immer noch die beiden Bergères und die ausgestopfte Eule unter ihrer Glasglocke, Überreste seines schönen früheren Lebens, dachte Lysander mit einem Anflug von Ärger, weil man ihn gezwungen hatte, dieses Leben aufzugeben.
    »Kannst du mir bitte das Zimmer von Herrn Barth aufschließen, Traudl?«
    »Ich habe den Schlüssel nicht, mein Herr.«
    »Natürlich hast du den Schlüssel.«
    Kleinlaut

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