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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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drehte sie sich um, lief durch den Flur zu Barths Zimmer, holte den Schlüsselbund unter ihrer Schürze hervor und schloss die Tür auf.
    »Du darfst niemandem erzählen, dass ich hier war, Traudl. Klar? Ich werde Herrn Barth später alles erklären – aber du darfst kein einziges Wort darüber verlauten lassen.«
    »Frau Kriwanek wird es ja doch erfahren, Herr Rief. Sie erfährt immer alles.«
    »Das stimmt nicht. Von dir und Leutnant Rozman hat sie beispielsweise noch nichts erfahren … «
    Traudl ließ den Kopf hängen.
    »Ich würde Frau Kriwanek nur sehr ungern mitteilen, was du und der Leutnant so getrieben habt.«
    »Bitte, Herr Rief. Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar, wenn Sie mich nicht verraten würden.«
    »Und vergiss nicht, dass du mir zwanzig Kronen schuldest, Traudl.«
    »Ich sage es keiner Menschenseele. Ich schwör’s.«
    Lysander gewährte Traudl den Vortritt in das winzige Zimmer von Herrn Barth. »Nach dir«, sagte er und folgte ihr.

25. Triest
    Lysander blickte aus dem Fenster des Grazer Express und sah auf den kurzen Streckenabschnitten zwischen den unzähligen Tunneln, durch die der Zug auf seiner Talfahrt in die Küstenstadt hindurchdonnerte, die ersten Sonnenstrahlen am Golf von Triest aufschimmern. Diese Aussicht auf die Adria mit ihrer Felsenküste erschien ihm wie ein Symbol seiner Rettung, etwas, das er im Gedächtnis bewahren sollte. Nun hatte er den äußersten Rand von Österreich-Ungarn erreicht und würde dem Land in wenigen Stunden für immer den Rücken kehren. Er hatte Hunger – seit der halben Portion vom Vortag hatte er nichts gegessen, und er nahm sich vor, im Bahnhofsrestaurant ordentlich zu frühstücken, sobald sie angekommen waren. Er hatte immer noch gut hundert Kronen in der Tasche, mehr als genug, um eine Dampferüberfahrt nach Ancona zu buchen – es war gar nicht nötig, so weit südlich zu fahren wie Bari. Von Ancona aus würde er nach Florenz gehen und sich dort Geld überweisen lassen, um seine Rückreise über Frankreich fortzusetzen. Jetzt, da er fast schon in Triest war, wirkten diese Pläne alle plausibel und leicht umsetzbar.
    Mit ächzenden, quietschenden Bremsen hielt der Grazer Express an der Stazione Meridionale. Lysander trat auf den Bahnsteig. Er brauchte nur die italienischen Schilder zu sehen und wusste: Er hatte es geschafft. Er war frei –
    »Rief?«
    Als er sich ganz vorsichtig umdrehte, sah er Jack Fyfe-Miller mit einem kleinen Lederkoffer aus einem Wagen der ersten Klasse steigen.
    Lysander verspürte eine gewisse Erleichterung.
    »Bravo!« Fyfe-Miller klopfte ihm auf die Schulter. »Sie haben bestimmt Hunger. Ich spendiere Ihnen ein Frühstück.«
    Sie gingen ins Café Orientale im Lloyds-Palast an der Piazza Grande, wo Lysander ein Sechs-Eier-Omelett mit Schweinesteak bestellte und dazu Unmengen süßer kleiner Brötchen verspeiste. Fyfe-Miller trank einen Gespritzten und rauchte eine Zigarette.
    »Sie haben uns sehr beeindruckt«, sagte er.
    »Wie das?«
    »Munro und ich haben am Südbahnhof nach Ihnen Ausschau gehalten. Wir hatten Sie schon fast aufgegeben – dachten, Sie hätten es nicht rechtzeitig geschafft. Die Polizei war nämlich im Handumdrehen dort. Und plötzlich tauchen Sie doch noch auf, fluchen im schönsten Italienisch und schleppen einen Kontrabass.«
    »Ich habe mir etwas einfallen lassen, wie geheißen.«
    Lysander hatte sich das Kopfkissen von Herrn Barth unters Hemd gestopft und den Mantel über seinem neuen Kugelbauch zugeknöpft. Dann hatte er Herrn Barths uralten Zylinder aus Pressfilz genommen und mit einem kräftigen Hieb eingedellt. Der riesige Kontrabass im Lederkasten stellte sich als erstaunlich leicht, wenn auch recht sperrig heraus. Zu guter Letzt hatte er Traudl in Herrn Barths Zimmer eingeschlossen und von der Mariahilfer Straße aus einen Fiaker zum Bahnhof genommen. Dort hatte er eine Fahrkarte nach Triest erworben (dritter Klasse), ehe er sich – unter lauten Mi scusi- , Attenzione- und Lasciami passare -Rufen – zum Bahnsteig begab. Die Leute drehten sich nach ihm um, er sah Kinder lächeln und mit dem Finger auf ihn zeigen, er sah auch Polizisten, die ihm flüchtige Blicke zuwarfen. Ein Gepäckträger half ihm, den Kontrabass in den Wagen zu hieven. Keiner suchte nach einem dicklichen italienischen Kontrabassisten mit speckiger Kopfbedeckung. Lysander fand einen Platz am Fenster und wartete so gelassen wie möglich auf den Abfahrtspfiff.
    »Manchmal ist eine auffällige Erscheinung die beste

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