Eine große Zeit
Karaffe.
»Nein. Morgen laufe ich nach Winchelsea, um nach dem Major zu sehen.«
»Dieser Teufelskerl. Wo hat er sich in letzter Zeit wieder herumgetrieben?«
Sie gingen den breiten Flur entlang, der zum grünen Salon führte.
»Irgendwo in Westafrika. Soviel ich weiß, hat er den Oberlauf des Benue erkundet. Er war zwei Jahre fort.«
Die beiden Männer traten in den Salon, wo May gerade Klavier spielte, während Lysanders Mutter in den Notenblättern nach einem Lied suchte. Es war ihr Kabinettstückchen, eine Reverenz an ihre Vergangenheit, die allen Genuss bereitete. Lysander stellte sich neben den Kamin und bewunderte seine Mutter, sie stand im Flügelrund, eine Hand am Notenhalter, und hob energisch das Kinn, bereit zu singen. Draußen war es noch hell – das dunkelnde Blau einer kurzen Sommernacht hatte eben erst begonnen, die letzten Sonnenschimmer am Himmel zu überlagern. Lysander verspürte einen leichten Druck im Kreuz, dann breitete sich ein Gefühl von Frieden in ihm aus. Er hatte einen Sohn – nun wurde ihm das richtig bewusst. Einen Sohn namens Lothar. Er fragte sich, ob er ihn eines Tages nach Claverleigh Hall bringen würde, damit er seine Großmutter kennenlernte. Diesen Traum zu verwirklichen erschien ihm unmöglich. Seine Mutter fing an zu singen, und ihre warme, volle Stimme erfüllte den Raum.
Arm und Nacken, weiß und lieblich,
Schimmern in dem Mondenscheine …
Brahms, wie Lysander erkannte, eines seiner Lieblingslieder. »Sommerabend«. Die schlichten Verse lösten eine schmerzliche Sehnsucht in ihm aus. Hettie, dachte er sogleich – er hatte das alles offensichtlich noch nicht verwunden. Während seine Mutter weitersang, trat er ans Fenster und spähte durch seine Spiegelung hindurch in den Park, der allmählich in der Dämmerung versank, die Sonne war nun untergegangen, auch wenn ihr Widerschein die blaugraue Atmosphäre noch immer erhellte. Die alten Linden, Eichen und Ulmen schienen sich innerhalb ihrer Einfriedung zu verdichten, sie waren nicht mehr als einzelne Bäume zu erkennen, sondern mutierten zu riesigen, kompakten und struppigen Monolithen, die, nachdem auch das letzte Licht von ihnen gewichen war, die kunstvolle Gestaltung des Gartenarchitekten umso stärker zutage treten ließen, der die zarten Bäumchen ein Jahrhundert zuvor hier und dort verteilt hatte – auf sanften Hügeln, am Ufer des kleinen Sees, in Talmulden zu Hainen gruppiert – , um von Menschenhand eine ideale Landschaft zu erschaffen, die er selbst nie erblicken würde.
3. Der Weg nach Winchelsea
Lysander stand um sechs Uhr auf und ging in die Küche, wo er rasch eine Tasse Tee trank und sich zwei Sandwiches mit Käse und sauren Gurken belegen ließ. In seinem Schrank hatte er eine Cordhose und ein Paar Wanderstiefel entdeckt, die er mit einer Leinenjacke und einem Panamahut kombinierte. Seiner Schätzung nach waren es bis Winchelsea etwa 23 Meilen auf mehr oder weniger gerader Strecke, auf Pisten und Feldwegen entlang über die Dörfer Herstmonceux und Battle und schließlich ein kurzes Stück auf der Hauptstraße, die in Richtung Küste nach Winchelsea führte.
Der Tag versprach zwar warm zu werden, da Marlowe ihn aber vor möglichen Schauern gewarnt hatte, stopfte er einen gummierten Regenumhang in seinen Rucksack, dazu die Sandwiches und sein Rollenbuch, bevor er den Park durchquerte, auf der Suche nach einem Feldweg, dem er ostwärts in Richtung Herstmonceux folgen konnte.
In der Morgenfrische kam er auf dem hügeligen Gelände gut voran, erhaschte regelmäßig einen Blick auf das silbrige Meer zu seiner Rechten, wenn die Täler, die sich unter ihm erstreckten, die Sicht nach Süden freigaben. Er fühlte sich durch und durch wohl, wie immer, wenn er auf ein bestimmtes Ziel zulief, sein Kopf wurde ganz frei, und er hatte nur noch Augen und Ohren für seine unmittelbare Umgebung, während er die Eichen- und Buchenhaine umging, eingesunkenen Pfaden folgte, die von Hagebuchen und Heckendorn gesäumt waren, dem zweitönigen Lied eines späten Kuckucks lauschte, von Anhöhen aus auf Miniaturfarmen herabblickte, Hauptstraßen hurtig überquerte, um Verkehr und Lärm des 20. Jahrhunderts so weit wie möglich hinter sich zu lassen.
Auf den Feldern, die er passierte, wurde bereits Heu geschnitten, die Heumacher mähten die Wiesen ab und setzten den stechend süßen Geruch geschnittenen Grases frei. Im Lauf des Vormittags wurde ihm klar, dass er wohl etwas vom Weg abgekommen war. Das Meer hatte er schon
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