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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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seit einer Stunde nicht mehr gesehen, zwar bewegte er sich – dem Sonnenstand nach – grob in Richtung Osten, auf den letzten Kilometern war ihm jedoch weder ein Wegweiser noch ein Dorfschild aufgefallen. Als ihm ein glöckchenbehangener Vierspänner begegnete, fragte er den Kutscherjungen, der die Pferde führte, wo die Straße nach Herstmonceux lag. Der Junge erklärte ihm, dass er am Dorf vorbeigelaufen war und wieder umkehren sollte. Wenn er nur immer stur geradeaus ginge, würde er zu einer Feldkirche gelangen. Dort gebe es auch einen Wegweiser.
    Bei der wuchtigen alten Kirche legte Lysander eine Pause ein. Sie war mit graublauem Feuerstein verkleidet, verfügte über einen Zinnenturm und einen Friedhof, der zur Hälfte von Nesseln, Gräsern und Wiesenkerbel überwuchert war. Krumme, knorrige Apfelbäume flankierten die Friedhofsmauer. Dort aß er sein erstes Sandwich und bekam vom Käse und den sauren Gurken einen solchen Durst, dass er Battle ansteuerte, nachdem er einem alten Meilenstein am Wegesrand entnehmen konnte, dass das Städtchen zweieinhalb Meilen entfernt war. Battle und seine Pubs. Er lag gut in der Zeit – ein Krug Ale, eine Zigarette, dann würde er weiterziehen.
    In Battle fand er unweit der Abtei ein ruhiges Pub namens The Windmill – es war gerade erst Mittag geworden. Für einen Sixpence bekam er einen halben Liter trübes Ale, setzte sich damit auf eine Bank am Fenster und beobachtete drei Heumacher in verdreckten Kitteln beim Dominospielen. Dann zog er Fräulein Julie aus dem Rucksack, er sollte das Stück vor der ersten Probe, die für den morgigen Nachmittag in St John’s Wood angesetzt war, endlich lesen. Nach den ersten zwei Seiten klappte er das Buch wieder zu, August Strindberg passte seiner Ansicht nach nicht in diese Welt, und er wollte weder Strindberg noch dem Windmill-Pub in Battle einen Tort antun, indem er sie zusammenbrachte.
    Während er in diesem kleinen Pub mit dem kühlen Steinplattenboden saß, dem Murmeln der Heumacher und dem Klicken der fallenden Dominosteine lauschte und sein Bier trank, hier in England, im Hochsommer des Jahres1914 , hatte er plötzlich das Gefühl zu erstarren, als litte er an einer Art geistigen Lähmung – als sei die Zeit stehengeblieben und habe die Welt aufgehört, sich zu drehen. Das war ein höchst eigenartiges Gefühl, dass er für immer und ewig hier feststecken würde, an diesem Tag Ende Juni1914 , wie eine Fliege im Bernstein, und die Vergangenheit für ihn ebenso nichtig wäre wie die Zukunft. Der perfekte Stillstand. Eine höchst verlockende Untätigkeit.
    Und dann verschwand dieses Gefühl ebenso plötzlich, wie es gekommen war, als ein Lastwagen hupend vorbeirumpelte und die Welt sich erneut zu drehen begann. Lysander lud sich den Rucksack auf und trug seinen leeren Krug zum Tresen.
    Als er Battle verließ, setzte Nieselregen ein, dennoch entschied er sich, weiterzulaufen, ging so bald wie möglich von der stark befahrenen Straße nach Hastings ab und folgte einer Piste, die ihn nach Auskunft einer Gruppe von Förstern – die gerade Erlenstämme spalteten – querfeldein bis nach Guestling Thorn führen würde. Dort müsste er sich dann für ein, zwei Meilen auf die verkehrsreiche Hauptstraße von Rye wagen, aber so würde er auf direktem Weg in Winchelsea und beim Major ankommen.
    Winchelsea gefiel ihm, dachte er, als er das Dorf erreichte und eine der breiten Straßen entlangging, um zu Hamos Cottage zu gelangen. Alle Dorfstraßen sollten so breit sein: Winchelsea strahlte vor Licht, bot sich auf seinem Hügel ganz der Sonne dar. Hamos weißes verschaltes Cottage befand sich am Westrand und bot einen herrlichen Ausblick auf die Bucht von Rye bis zu den Camber Sands und dem ausgedehnten Marschland von Romney. Lysander klopfte an die Tür.

4. Ein ganz lieber Junge
    »Tja, ich wollte nur, dass du dir über die Situation im Klaren bist«, sagte der Major. »Du kennst meinen Standpunkt, Lysander – man muss ehrlich sein, darauf kommt es im Leben an. Ehrlichkeit ist das Fundament jeder Beziehung. Ich mache keinen Hehl daraus, wie du siehst. Ich habe es nie getan und werde es nie tun.«
    Der Major stand in seinem Wohnzimmer mit dem Rückenzum Kamin, wo ein kleines Feuer brannte. Er trug eine alte gesteppte Hausjacke aus rotem Samt, dazu eine Krawatte und auf seinem kahlen Schädel ein weißes, perlenbesetztes Scheitelkäppchen. Ein hagerer Mann mit wettergegerbterHaut, immer noch stark sonnengebräunt, über seine Wangen zogen

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