Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
Vom Netzwerk:
oder gesellschaftlichen Zusammenhängen. Hamo hatte keinerlei Ähnlichkeit mit seinem großen Bruder – er hatte einen kleinen Kopf, eine Glatze und war von Natur aus dünn – , aber für Lysander bildete er die letzten Blutsbande zu seinem toten Vater. Hamo sprach von sich aus gern über ihn und vergaß nie zu erwähnen, dass der einzige Mensch, den er jemals wirklich geliebt habe, sein Bruder Halifax war.
    »Halifax hat mich immer verstanden, von klein an«, hatte Hamo Lysander einmal anvertraut. »Als ich ihm – da war ich wohl vierzehn – erzählte, dass Mädchen mich nicht die Bohne interessierten, sagte er, Alexander dem Großen sei es genauso gegangen. Dann hat er mir ein paar Sonette von Shakespeare vorgelesen – und ich habe mir deswegen nie wieder einen Kopf gemacht.«
    Zum Abendessen gab es kalten Hammelbraten mit Salzkartoffeln. Femi gesellte sich zu ihnen. Anschließend tischte Hamo einen halben Stiltonkäse und einen Teller Hartkekse auf, bevor er die nächste Bordeauxflasche vor einer brennenden Kerze dekantierte; dabei zeigte er Femi, wie man dank des beleuchteten Flaschenhalses vermeiden konnte, Bodensatz in die Karaffe zu gießen.
    »Tut mir leid, dass ich das Willkommensfestmahl in Claverleigh absagen musste«, sagte er. »Ich werde deiner Mutter so bald wie möglich schreiben und ihr die Umstände erklären. Ich war einfach noch nicht so weit – verstehst du?«
    »Ich kann dich gut verstehen.«
    »Ich hatte schlicht keine Lust, den Bürgermeister von Lewes zu treffen oder den tiefverehrten Sir Humphrey Bumphrey und seine hochgeschätzte Gemahlin Lady Tralala. Außerdem schien mir der junge Femi noch nicht bereit für eine Feuerprobe dieser Art.«
    »Offen gesagt dürfte es Crickmay sogar ganz recht gewesen sein – inzwischen wird er schnell müde. Meine Mutter hat es auch nicht weiter gestört. Sie wollten dir sicher nur eine Freude machen – das gemästete Kalb schlachten, ein opulentes Gelage ausrichten nach deinen dürren Afrika-Jahren.«
    Hamo schenkte ihnen Wein nach.
    »Sie ist eine kluge, bezaubernde Frau. Ich weiß die Geste zu schätzen. Und da ich ohnehin eine Lesung abhalten muss, in London, werde ich alle dorthin einladen.« Er wandte sich Femi zu und berührte seinen Arm. »Ist alles in Ordnung, mein lieber Junge?«
    »Ja, Sar. Bestens.«
    Hamo richtete seinen Blick wieder auf Lysander.
    »Erzähl schon, was treibt die verruchte Theaterwelt? Wusstest du eigentlich, dass Ellen Terry in Winchelsea ein Cottage besaß? Lebte dort in wilder Ehe mit Henry Irving. Sie tanzte gern barfuß und im Nachthemd auf der Wiese herum. Wir sind ein sehr tolerantes kleines Dorf. Breite Straßen, weite Herzen.«
    Nachdem er den Tisch abgeräumt hatte, ging Femi schlafen, während Hamo und Lysander noch lange rauchend und plaudernd am Kamin sitzen blieben. Bald kamen sie auf Halifax Rief zu sprechen, genau wie Lysander gehofft hatte.
    »Ein ungeheurer Verlust. Ich will es bis heute nicht richtig wahrhaben. Einmal habe ich zu Femi gesagt: Du musst unbedingt meinen Bruder Halifax kennenlernen. Das ist mir einfach so herausgerutscht. Und dann ist mir wieder eingefallen, dass er schon so lange tot ist. Ständig denke ich: Das muss ich Halifax erzählen. Das wird ihn zum Lachen bringen. Ich kann nicht anders.«
    »Ich war damals zu klein«, sagte Lysander. »Und ich habe ihn viel zu selten gesehen, um mir seine Persönlichkeit wirklich einzuprägen. Für mich war er einfach nur ›der Vater‹. Immer war er im Theater oder auf Tournee.«
    Hamo deutete mit seinem Pfeifenstiel auf Lysander. »Vor Schauspielern haben Femis Leute große Achtung. Im Grunde gilt das für alle Afrikaner – sie respektieren Schauspieler, Tänzer, Musiker, Darsteller aller Art. Du solltest mal erleben, wie manche aus Femis Stamm Tiere nachahmen – Reiher, Leoparden, Affen. Einfach unglaublich. Ein bisschen Farbe, zwei, drei Federn, ein Stock und dazu ein paar Gebärden, die Körperhaltung – verblüffend, was sie damit erreichen. So hat man beispielsweise den Eindruck, einen Graureiher zu beobachten, der durch sumpfiges Wasser schreitet und einen Fisch mit dem Schnabel aufspießt. Halifax wäre begeistert gewesen.«
    »In welcher Rolle hast du ihn das letzte Mal auf der Bühne gesehen?« Lysander kannte zwar die Antwort, aber er wollte Hamos Gedächtnis auf die Sprünge helfen.
    »Als Lear. Ja … etwa eine Woche vor seinem Tod. Ich hatte meinen Urlaub in London verbracht und sollte nach Indien zurückkehren, zum Regiment.

Weitere Kostenlose Bücher