Eine große Zeit
Eine unvergessliche Darbietung. Dein Vater war ja ein kräftiger Mann, aber als König Lear ist er förmlich vor deinen Augen geschrumpft, wurde immer schwächer und hinfälliger. Du kennst natürlich diesen Monolog: ›Blast, Winde, sprengt die Backen!‹«
»Die Sturmszene.« Lysander breitete die Arme aus und deklamierte: »Wütet, blast! Ihr Katarakte, Wolkenbrüche, speit, bis ihr die Türm ersäuft, die Hähn ertränkt!«
»Genau. Allerdings hat er ganz leise gesprochen. Er stand praktisch regungslos da – von Schwulst keine Spur. Das jagte einem Schauer über den Rücken. Möchtest du vielleicht noch einen Whisky, mein Junge?«
»Ja gern – ich habe ziemlich bedeutsame Neuigkeiten. Und ich brauche deinen Rat.«
Bei zwei weiteren Gläsern Whisky erzählte Lysander seinem Onkel alles über Hettie, die Anzeige wegen Vergewaltigung und tätlichen Angriffs, seine Festnahme und die Flucht von Wien nach Triest. Er erzählte ihm auch von Lothars Geburt.
»Wie heißt er? Wiederhole das bitte.«
»Lothar. Lothar Rief.«
»Aber du kannst jetzt wohl nicht mehr nach Österreich reisen. Und wenn du dich verkleiden würdest?«
»Ich sollte es besser nicht riskieren.«
»Wie wäre es, wenn ich an deiner Stelle führe? Ich könnte dieses Mädchen, Hettie, aufspüren und unauffällig mit ihr in Kontakt treten. Kein Mensch würde bei einem alten Knacker wie mir Verdacht schöpfen.«
»Würdest du das wirklich tun?«
»Jederzeit.« Seine hellblauen Augen blitzten vor Unternehmungslust. »Ich könnte den Jungen ausfindig machen. Diesem Künstler – diesem Hoff – auf den Zahn fühlen. Ich tue einfach so, als wollte ich ihm ein Bild abkaufen. Schaue ein bisschen, wie die Verhältnisse sind, und erstatte dir dann Bericht.«
»So abwegig ist das gar nicht … « Lysander hatte sich von Hamos Eifer anstecken lassen. »Ich habe auch einen Freund vor Ort«, fügte er hinzu, »einen Husarenleutnant. Er könnte dir nützlich sein.«
»Aber ich spreche kein Deutsch.«
»Der Leutnant heißt Wolfram Rozman. Er spricht hervorragend Englisch.«
»Wir werden einen richtigen Plan aushecken, Lysander. Und dann bringen wir den kleinen Lothar dorthin, wo er hingehört. Vielleicht entführe ich ihn einfach … « Hamo bedachte Lysander mit einem seiner seltenen, schiefen Lächeln und zwinkerte ihm zu.
Am nächsten Morgen war Lysander in aller Frühe auf den Beinen, um den Zug von Rye nach Claverleigh zu nehmen. In der Küche fand er Femi barfuß in einem wild gemusterten Baumwollgewand vor, das ihm bis zum Knöchel reichte. Auf einmal wirkte er überaus afrikanisch in dieser kleinen Cottageküche mit dem kochenden Wasserkessel auf dem Herd und den Stapeln von Geschirr auf dem Abtropfbrett. Er gab Lysander die Hand.
»Der Major sprechen von Ihnen oft, oft«, sagte Femi.
Lysander war gerührt. Er verließ das Haus mit einem ganz neuen Gefühl von Zielstrebigkeit, und zum ersten Mal, seit er von Lothars Geburt erfahren hatte, verspürte er leise Zuversicht. Der Plan nahm Gestalt an. Er sprang in einen Pferdewagen, der vor dem Wirtshaus von Winchelsea auf Fahrgäste wartete, und erreichte den Bahnhof von Rye noch rechtzeitig, um in den Zug nach Brighton zu steigen, der um 7.45 Uhr abfuhr und unterwegs in Hastings und Lewes hielt, zusammen mit allen anderen Montagmorgen-Pendlern, Männer mit ausdruckslosen Mienen, grauen Anzügen, gestärkten Kragen und Bowlerhüten, die Zeitung lasen und die Stunden zählten, bis sie wieder in den Zug steigen konnten, der sie nach Hause fahren würde. In ihrer Mitte nahm Lysander sich wie ein bunter Vogel aus, mit seiner ausgebeulten Cordhose und dem Panamahut, den Rucksack auf einer Seite geschultert, während er über Hamos Plan nachsann und unwillkürlich lächeln musste, weil sein Herz vor Freude einen Satz tat.
5. Eine groteske Beleidigung des Barden
Lysander schwirrte immer noch der Kopf. Er empfand diese seltsame Mischung aus restloser Erschöpfung und adrenalingesättigtem Überschwang, die ihn jedes Mal befiel, wenn er nach einer Premiere von der Bühne ging – insbesondere, wenn seine Rolle nicht ganz unbedeutend war. Das konnte noch eine gute Stunde vorhalten, wie er aus Erfahrung wusste, seine Augenlider flatterten und wurden schwer, sie fielen fast von allein zu. Gilda sprach auf ihn ein, aber er hatte nicht die Kraft, ihr zuzuhören. Im Geist ging er noch einmal seinen Auftritt als Angelo durch und fragte sich besorgt, ob er seinen großen Monolog im zweiten Akt nicht doch
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