Eine große Zeit
brauchte eine Stunde, um sie dazu zu bringen, in ihre Baracke zurückzukehren, mit der schriftlichen Zusage, dass sie binnen vierundzwanzig Stunden von einem Arzt untersucht werden würde, vorausgesetzt, in Swansea ließe sich ein Arzt auftreiben. Lysander hatte nichts gegen Frau Schumacher, auch wenn er sie fast jeden zweiten Tag zu Gesicht bekam; fast alle, die im Internierungslager von Bishop’s Bay festgehalten wurden, hatten allerlei Anlass zu Beschwerden, nicht zuletzt die Inhaftierung an sich. Es gab Handelsmatrosen – darunter ein halbes Dutzend mürrischer Türken – , deren deutsche Kohletransporter bei Kriegsausbruch im Hafen von Swansea beschlagnahmt worden waren; rund zwanzig Schulkinder aus München, die noch immer ihrer Rückführung in die Heimat harrten, nachdem sie eine hochsommerliche Radtour durch Wales unternommen hatten; etliche hiesige Kleinunternehmer – Metzger, Teesalonbetreiber, ein Bestatter, Musiklehrer – mit deutschen Namen beziehungsweise deutschen Vorfahren. Frau Schumacher hatte bloß ihre Cousine in Llanelli besucht, die mit einem Waliser namens Jones verheiratet war. Am Morgen des 5. August war die ganze Familie aus den Betten gescheucht und Frau Schumacher verhaftet worden. Am 6. August hätte sie nach Bremen zurückfahren sollen.
Was für ein Pech, was für ein verdammtes Pech, dachte Lysander, als er ins Freie trat, um ein bisschen frische Luft zu schnappen, schon erschöpft, nachdem er eine Stunde lang Frau Schumachers gallige Nörgeleien gedolmetscht hatte. Er klappte den Kragen seiner Uniformjacke hoch, drückte sich die Mütze auf den Kopf und suchte in den Taschen nach Zigaretten. Dann zündete er sich eine an und lief an einer Spielbahn entlang auf die niedrige Dünenlandschaft zu, hinter der sich ein schmaler Strand erstreckte. Von einem der Wachtürme brüllte jemand »Hey, Schauspieler!«, worauf Lysander munter den Daumen hob.
Es nieselte noch, aber das machte ihm nicht viel aus, er war froh, allein am Strand zu stehen und zu beobachten, wie der Wind den Schaum von den stürmischen, stahlgrauen Wellen peitschte. Seinen Schätzungen nach musste Ilfracombe genau gegenüber liegen, wenn auch außer Sichtweite, etliche Seemeilen entfernt auf der anderen Seite des breiten Kanals. Einmal hatte er dort die Ferien verbracht, mit neun, im Jahr 1895. Er erinnerte sich, dass er seinen Vater hatte überreden wollen, mit ihm Krabben zu fischen, ohne Erfolg. »Nein, mein Junge, für Krabben habe ich nichts übrig.« Als er die Zigarette aufgeraucht hatte, schleuderte er sie in die Wellen und schlenderte zum Clubhaus zurück. Unterdessen hatte sich eine kleine Schlange von Internierten gebildet, die Lysander ausdruckslos anblickten, als er an ihnen vorbeiging.
»Viel los heute«, sagte Teesdale, als der erste Bittsteller hereinschlurfte. »Wie kommt’s, dass Sie so gut Deutsch sprechen, Rief?«
»Ich habe vor dem Krieg in Wien gelebt.« So ein knapper Satz, dachte Lysander, nur acht Wörter, doch wie viel war darin enthalten. Er sollte ihn als Grabinschrift verwenden. »Fangen wir besser an«, fügte er hinzu, denn er merkte, dass Teesdale zum Plaudern aufgelegt war.
»Und wo sind Sie zur Schule gegangen?«
»Ich habe viele Schulen besucht, Sir. Bin als Kind viel herumgekommen.«
Von allen dämlichen Entscheidungen seines Lebens, dachte Lysander, war die dämlichste wohl jene, die er am Morgen nach seinem Besuch bei Hamo getroffen hatte. In Rye musste er eine halbe Stunde auf den Zug nach London warten, und so lief er ziellos durch die Stadt, dachte voller Bitterkeit an Hettie und seinen unbekannten kleinen Sohn Lothar, der bald Udo Hoffs Sohn sein würde, jedenfalls dem Namen nach. Im Schaufenster eines leeren Gemüseladens sah er ein großes Plakat mit dem Aufdruck: EAST SUSSEX’ LEICHTE INFANTERIE »THE MARTLETTS«. MÄNNER, TUT EURE PFLICHT FÜR ENGLAND ! Ein feister Feldwebel stand im Türrahmen und fing Lysanders Blick auf.
»Sie sind ein schmucker Kerl. Garantiert kräftig und wendig. Solche wie Sie können wir gut brauchen.«
Und so war Lysander dem Ruf dieser unwahrscheinlichen Sirene gefolgt, hatte den Laden betreten und sich freiwillig verpflichtet. Aus ihm wurde Gefreiter 10099 im 2/5. Unterstützungsbataillon des Leichten Infanterie-Regiments von East Sussex. Zwei Tage später meldete er sich zur sechswöchigen Grundausbildung beim Regimentslager in Eastbourne. Für ihn war es eher Bußakt als Pflichterfüllung. Wenigstens wäre er nicht untätig, und er
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