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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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wünschte sich nichts anderes als eine tägliche Routine und Disziplin, die kein Nachdenken erforderte. Er würde nach Frankreich gehen, um den Feind zu bekämpfen, außerdem spukte irgendwo in seinem Hinterkopf die romantische Vorstellung umher, wie er siegreich in Wien einmarschierte, um die erste freudige Begegnung mit seinem kleinen Sohn herbeizuführen.
    »Gute Nacht, Mr Rief«, sagte eine der Schreibdamen im Hinausgehen. Lysander stand in der Eingangshalle des Clubhauses und wartete auf den LKW, der ihn zur Truppenunterkunft in Swansea zurückbringen würde. Die romantische Vorstellung war schnell verblasst. Näher als Swansea würde er Frankreich und der Front nicht kommen. Das 2/5. Unterstützungsbataillon der E.S.L.I. war dazu abkommandiert worden, den Küstenschutz in Südwales zu überwachen. Nach einigen Monaten, in denen sie an den Kais von Swansea und Port Talbot patrouillierten, die Strände mit Drahtverhauen versahen oder frierend in frisch ausgehobenen Schützengräben hockten, neben Artilleriebatterien, die auf den Bristolkanal gerichtet waren, war es einer Art Erlösung gleichgekommen, als seine Kompanie, die Kompanie C des Bataillons, den Befehl erhalten hatte, Wachmannschaften und Gefangeneneskorten für das jüngst eingerichtete Internierungslager von Bishop’s Bay zu stellen. Lysander hatte sich als Dolmetscher für die unzähligen Probleme der Internierten angeboten, machte sich rasch unentbehrlich und verbrachte seine Dienstzeit inzwischen am langen Tapeziertisch in der Clubbar. Es war Mai 1915. Greville Varley befand sich als Leutnant des Dorsetshire-Regiments in Mesopotamien. Die Lusitania war versenkt worden. Die Invasion von Gallipoli verlief offenbar anders als erwartet. Italien hatte Österreich-Ungarn den Krieg erklärt. Dieser maßlose, weltumspannende Krieg dauerte nun schon zehn Monate, und Lysander hatte noch nicht einmal …
    »Hätten Sie einen Moment Zeit, Rief?« Teesdale lehnte in der Tür seines Büros. Lysander ging wieder hinein und bekam einen Platz sowie eine Zigarette angeboten. Als er dem jungen Teesdale mit dem fast unsichtbaren Schnurrbart gegenüber saß, fühlte er sich sehr alt. Alt und müde.
    »Haben Sie jemals erwogen, sich um ein Offizierspatent zu bewerben?«, fragte Teesdale.
    »Ich möchte kein Offizier sein, Sir. Ich bin gern einfacher Soldat.«
    »Sie hätten es dann bequemer. Sie hätten einen Dienstburschen. Ein richtiges Bett. Sie könnten von einem Teller essen.«
    »Ich bin vollauf zufrieden, Sir.«
    »So geht das nicht, Rief. Sie sind hier fehl am Platz – ein gebildeter Mann, der überdies eine Fremdsprache beneidenswert fließend beherrscht.«
    »Ob Sie es glauben oder nicht: Ich bin hier wirklich sehr glücklich«, log Lysander.
    »Was haben Sie vor dem Krieg gemacht?«
    »Ich war Schauspieler.«
    Teesdale setzte sich auf.
    »Lysander Rief. Lysander Rief … Natürlich. Ja! Wissen Sie was, ich glaube, ich habe Sie tatsächlich spielen sehen.« Teesdale runzelte die Stirn und schnipste mit den Fingern beim Versuch, sich zu erinnern. »1912. Horsham College, zehnte Klasse, Theatergruppe. Wir haben eine Fahrt nach London unternommen … Was haben wir uns bloß angesehen?«
    Lysander zählte die Stücke auf, in denen er 1912 mitgespielt hatte: »Evangeline, Niemand ist schuld , Pflücke die Rosenknospen … «
    »Das war’s – Pflücke die Rosenknospen . Blanche Blondel. Hinreißende Frau. Bezauberndes Geschöpf.«
    »Sehr hübsch, ja.«
    »Lysander Rief – wirklich erstaunlich. Ob Sie mir vielleicht ein Autogramm geben würden?«
    »Mit dem größten Vergnügen, Sir.«
    »Schreiben Sie einfach ›für James‹.«
    Lysander saß auf seinem Bett, zog die Stiefel aus und löste seine Wickelgamaschen. Die Kompanie C war im Lagerhaus eines ehemaligen Sägewerks untergebracht, das nach Baumsäften, frisch verarbeitetem Holz und Sägespänen roch. Es war trocken und gut isoliert, mit vier Reihen Betten aus Holz und Hühnerdraht ausgestattet, draußen hatte man eine große Gemeinschaftslatrine ausgehoben. Sie bekamen regelmäßig und reichlich zu essen, außerdem gab es in der Gegend eine Menge Pubs. Die meisten Angehörigen der Kompanie verbrachten ihre dienstfreie Zeit in möglichst betrunkenem Zustand. Für jede Aufgabe stand ein gutes Dutzend Männer zur Verfügung. Der Hinterhof des Lagerhauses war hunderte Male gefegt, jedes Gebäude und jede Wand mindestens sieben Mal getüncht worden. Müßige Trunkenbolde wurden von den Unteroffizieren zu

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