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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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harter Arbeit gezwungen. Lysander mied jeden Ärger.
    Als er sich hinlegte, hörte er den Hühnerdraht unter seinem Strohsack quietschend nachgeben und schloss die Augen. Noch zwei Tage, dann hätte er eine Woche Urlaub.
    London.
    »He, Schauspieler!«
    Lysander schlug die Augen auf. Obergefreiter Merrilees stand vor ihm. Frank Merrilees, Anfang zwanzig, hatte sehr dunkle Haare, ein fliehendes Kinn und war so scharfsinnig wie hinterhältig.
    »Kommst du mit ins Pub?«
    Lysander wusste, dass sie gern mit ihm trinken gingen, weil er mehr Geld hatte als sie und regelmäßig eine Runde ausgab. Er erfüllte gern ihre Erwartungen, nicht, um sich Beliebtheit zu erkaufen, sondern seine Ruhe. Die anderen ließen ihn in Frieden; er musste sich nicht an ihrem hohlen Gezänk, Geläster und Gespött beteiligen.
    »Gute Idee.« Lysander setzte sich wieder auf und griff nach seinen Stiefeln.
    Merrilees Lieblingspub hieß The Anchor. Lysander fragte sich, ob es in Hafennähe lag; obwohl er seit Wochen im Sägewerk wohnte, hatte er keine Ahnung, in welchem Bezirk von Swansea es sich befand. Er wurde auf der Ladefläche eines LKWs von der Unterkunft zum Lager und wieder zurück gekarrt und sah von Swansea nur die bescheidenen, regenglänzenden Straßen, die hinter der flatternden Öffnung der LKW-Plane zum Vorschein kamen – darauf beschränkte sich sein ganzes Kriegsumfeld.
    Das Pub war nur wenige Straßen entfernt und leicht ohne öffentliche Verkehrsmittel zu erreichen, vielleicht war es deswegen so beliebt. Dort gab es den Barraum und ein kleines Extrazimmer, zu dem die E.S.L.I.-Soldaten keinen Zugang hatten. Merrilees wurde von vier Zechkumpanen begleitet, die Lysander nur zu gut kannte – Alfie »Finger« Doig, Nelson Waller, Mick Eltherington und Horace Lefroy. Wenn sie eine Runde spendierten, kam Lysander für die Spirituosen auf – Whisky, Brandy, Rum, Gin – , die zu den Krügen wässrigen Biers gereicht wurden. Darum duldeten sie ihn. Sie unterhielten sich wie immer in einer höchst derben Sprache – Scheißdies und Kackdas – und ihre Gespräche erschöpften sich, genau wie die der Internierten, in einer kruden Litanei des Unrechts und der Kränkungen, die sie erlitten hatten, brutalen Rachegelüsten oder sexuellen Prahlereien.
    »Letzte Runde, Jungs«, rief die Bardame.
    »Die würde ich gern übernehmen«, schlug Lysander vor.
    »Schauspieler, du bist ein echter Offizier und Gentleman«, sagte Merrilees mit glasigem Blick. Die anderen pflichteten ihm lautstark bei.
    Lysander trug das Tablett mit den sechs leeren Halbliterkrügen und fünf Schnapsgläsern zum Tresen und gab seine Bestellung bei der Bardame auf. Als er ihr beim Zapfen zusah, erkannte er sie zwar vom letzten Mal wieder, doch ihre Haare waren anders – nun waren sie in einem seltsam karottigen Rostbraun gefärbt. Er hatte sie blond in Erinnerung. So klein und zierlich die Bardame war, trug sie ein Mieder, das ihren stattlichen, vom V-Ausschnitt ihrer Satinbluse halb entblößten Busen zur Geltung brachte. Lysander ertappte sich beim Gedanken, dass sie so klein und zierlich war wie Hettie. Ihre Nase war ein bisschen krumm, und am Kinn hatte sie ein Grübchen, das der Form nach an ihren Brustansatz erinnerte. Ihre Augenbrauen waren dicht und dunkel.
    »Und noch drei Gin und zwei Whisky«, fügte er hinzu, als sie die Biere alle gezapft hatte. »Ihr Haar gefällt mir. Die neue Farbe.«
    »Danke«, sagte sie. »Von Natur aus bin ich nämlich rothaarig.« Sie sprach mit einem starken walisischen Akzent.
    Lysander nahm seinen Krug vom Tablett und gab Waller ein Zeichen, er solle den Rest holen. Das Pub leerte sich allmählich, aber er wollte lieber mit diesem Mädchen reden, als mit den Soldaten fluchen und schimpfen.
    »Ihr Jungs vom Militär seid ja richtige Stammgäste.«
    »Das ist unser Lieblingspub«, erwiderte er. »Wir sind im alten Sägewerk um die Ecke untergebracht.«
    »Sie sind aber anders als die anderen, oder?« Sie sah ihn prüfend an. »Ich hör’s an Ihrer Stimme.«
    »Wie heißen Sie?«, fragte er.
    »Cerridwyn. Alter walisischer Name. Bedeutet ›Holde Dichterin‹.«
    »Cerridwyn«, wiederholte er. »Ein schöner Name für eine Dichterin. Ich schreibe selbst hin und wieder Gedichte.« Lysander konnte sich nicht erklären, warum er ihr das erzählt hatte.
    »Ach ja?« Unverhohlene Skepsis. »Dann lassen Sie doch mal hören.«
    Lysander überlegte nicht lange und deklamierte:
    »Sie wird auf ewig die meine sein,
    Ich bin ihrem Zauber

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