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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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Taschenlampe aus, zog den Stift aus der Granate und schleuderte sie in den Verbindungsgraben. Gepolter. Flüche. Er warf auch die zweite Granate und rannte anschließend geduckt in die Richtung, in der nach seinem Dafürhalten die Ulmen standen.
    Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte er die Granaten detonieren – nur wenige Sekunden hintereinander – , das dumpfe Blap! Blap! der Explosionen im engen Raum unterhalb des Grabmals. Jemand fing an zu schreien.
    Lysander fiel auf die Knie. Die rauen schrillen Schreie ertönten weiterhin. Unmittelbar darauf setzte von beiden Seiten blindwütiges Artilleriefeuer ein – die Wachposten waren von den Granaten jäh aus ihrem Dämmerschlaf gerissen worden. Grüne, rote, weiße Leuchtraketen stiegen in den Nachthimmel auf. Er sah sich schlagartig in eine Welt von grellen Grundfarben versetzt. Dann ertönte das Pfeifen und Dröhnen von Granatgewehren. Eine Maschinenpistole feuerte los. Lysander kroch nun auf dem Bauch und wagte nicht aufzusehen. Schätzungsweise war er fünfzig oder sechzig Meter südlich von der Ruine entfernt. Wo waren nur die verfluchten Ulmen? Als es zwischendurch plötzlich still wurde, hörte er den alarmierten Schrei Foley? Foley! Wo sind Sie? Im starken Licht einer weißen Leuchtkugel erkannte er, dass er die Ulmen bereits passiert hatte. Er war weiter gekommen als gedacht, also musste er die Richtung ändern, um zu den Weiden und dem Abflussgraben zu gelangen. Er rollte sich zur Kugel zusammen und schaltete die Taschenlampe ein, um seinen Kompass zu konsultieren: Momentan steuerte er geradewegs auf die deutschen Linien im Osten zu, dabei musste er sich nach Süden wenden. Er drehte sich um neunzig Grad und robbte weiter. Hinter ihm lärmte eine Kakophonie von diversen Schüssen, donnernde Einschläge zeigten Lysander an, dass inzwischen auch schwere Mörser eingesetzt wurden. Sein kleines Ablenkungsmanöver war irgendwie außer Kontrolle geraten – er hoffte, dass Foley und Gorlice-Law unversehrt zurückgekehrt waren.
    Lysander fiel in den Abflussgraben, wo ihn die verbliebenen zehn Zentimeter Wasser gründlich durchnässten. Er ging in die Hocke, lehnte sich an die Böschung und atmete zunächst einmal tief durch. Es wurden noch ein paar Raketen abgeschossen, aber dann ließ das Feuer allmählich nach. Falscher Alarm. Nicht weiter schlimm. Er war mit dem Schrecken davongekommen.
    Wieder holte er den Plan hervor, schirmte die Taschenlampe mit der Hand ab und versuchte, sich zu orientieren. Falls dieser Abflussgraben wirklich derjenige war, den Foley ihm beschrieben hatte, musste er ihm nur knapp hundert Meter folgen, bis der Graben nach rechts abknickte und ihn direkt zur Drahtsperre der Franzosen führte. Dann brauchte er bloß noch nach den grünen Leuchtsignalen Ausschau zu halten, die von den französischen Linien abgefeuert werden sollten, um ihm den Weg zu weisen. Vorausgesetzt, es lief alles nach Munros Plan … Lysander warf einen Blick auf die Uhr. Halb vier. In spätestens einer Stunde würde es wieder hell werden – er musste dringend weiter.
    Nachdem er eine Weile durch den Graben gewatet war, machte dieser tatsächlich eine Biegung nach rechts, aber dann schien er vor einer uralten Rohrleitung abrupt zu enden. Lysander spähte in die Dunkelheit hinaus. Theoretisch müsste sich ihm gegenüber die Frontdrahtsperre der zehnten französischen Armee befinden. Von den grünen Leuchtsignalen, die Munro ihm versprochen hatte, war jedoch weit und breit nichts zu sehen. Alle zehn Minuten sollte eins abgefeuert werden, hatte Munro gesagt. Bestimmt hatten sie den Krach und das Durcheinander vernommen, die die Explosion seiner Granaten ausgelöst hatte.
    Er dachte über die Granaten nach, die er in den Verbindungsgraben unterhalb des Grabmals geschleudert hatte. Vor seinem inneren Auge tauchten die beiden Gesichter, die zu ihm aufgeblickt hatten, wieder auf – der Mann mit dem schwarzen Schnurrbart und der hellblonde Junge – , zutiefst verblüfft und schockiert. Zwei Fernmelder, die ein Telefonkabel verlegen wollten, um den Horchposten wieder aufzubauen, vermutete Lysander. Er musste wohl davon ausgehen, dass seine Granaten die beiden getötet oder zumindest schwer verletzt hatten. Diese Schreie. Schmerzerfüllt, fast tierisch. Die Panik im Dunkeln, als die Mills-Granaten gegen das Gestein knallten. Fieberhaft tastende, suchende Finger, Fluchen und dann – BUMM!
    Lysander begann zu zittern und umschlang seine Knie. Es hatte keinen Sinn, daran zu

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