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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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denken, an das, was möglicherweise mit den beiden Fernmeldern passiert war. Woher hätte er wissen sollen, dass sie dort sein würden? Nein, am besten harrte er hier bis zum Sonnenaufgang aus. Dann würde ihm vielleicht einfallen, was zu tun war.
    Es war ein schöner, etwas gespenstischer Anblick, als der Himmel hinter den deutschen Linien heller wurde. Lysander konnte nach und nach die Schlüsselmerkmale der Landschaft ausmachen – die drei Ulmen befanden sich zu seiner Rechten, und vor ihm wurde die dunkle Kreuzschraffur der französischen Drahtsperre sichtbar. Die Kanalöffnung bestand aus einem groben Steinbogen, dicht von Binsen umwachsen, die dank der Feuchtigkeit aus dem Abflussgraben bestens gediehen. Als eine Brise aufkam, roch er den Rauch, der über das Niemandsland hinwegzog, weil in den Schützengräben Feuer gemacht wurde. Er merkte, dass er Hunger hatte – ein paar knusprige Speckscheiben und ein Kanten in heißes Fett getunktes Brot wären jetzt genau das Richtige.
    Ganz vorsichtig schob er die Binsen beiseite und musterte den Stacheldrahtverhau, der in knapp zwanzig Meter Entfernung vor den französischen Linien angelegt war. So dicht und kunstvoll, dass er sich dort unmöglich herauswinden konnte. Lysander sah aus den Gräben dahinter zwar eine graue Rauchsäule aufsteigen, die vom Wind erfasst wurde, aber keine Spur einer Sandsackbrustwehr oder Schießscharte.
    Er legte die Hände trichterförmig um den Mund und rief: »Allo! Allo! Je suis un officier anglais.«
    Nach etwa fünf Sekunden wiederholte er Allo! Als Antwort knallte ein Gewehrschuss.
    »Je suis un officier anglais. Je ne suis pas allemand.«
    Darauf folgten mehr Schüsse, die ihn jedoch weiträumig verfehlten. Dann hörte Lysander hinter den französischen Linien ein Brüllen.
    »Tu nous prends pour des crétins, Monsieur Boche? Vas te faire enculer!«
    Lysander wusste nicht weiter. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, Französisch zu sprechen.
    »Ich bin Engländer!«, rief er. »Englischer Offizier. Ich habe mich verlaufen! Perdu! «
    Wieder knallten Gewehrschüsse ins Blaue. Lysander blickte über die Schulter auf die deutschen Linien und hoffte, dass die Deutschen sich nicht zum Zurückschießen verleiten ließen, sonst würde er ins Kreuzfeuer geraten.
    »Parlez-vous anglais?« , rief er erneut. »Ich bin ein englischer Offizier! Ich habe mich verirrt!«
    Damit handelte er sich weitere Beschimpfungen ein – anschauliche Kraftausdrücke, die er nicht kannte oder nur vage verstand und die offensichtlich von diversen sexuellen Handlungen mit Tieren und engen Angehörigen handelten.
    Ziemlich verzweifelt hockte er sich wieder hin. Was sollte er nur tun? Unter Umständen müsste er bis Einbruch der Dunkelheit warten und dann zu den Manchesters zurückkehren. Dort hätte er vielleicht auch das Pech, von einem nervösen Wachposten erschossen zu werden, dem der Schreck der vorigen Nacht noch in den Knochen saß. Doch gesetzt den Fall, er käme wohlbehalten zurück, wie stünde er vor den anderen da? Wäre dann nicht die ganze Genfer Operation gefährdet? Was für ein beschissen dämlicher Plan, dachte er. Warum musste er unbedingt »nach Kampfeinsatz vermisst« werden? Warum konnte er nicht einfach als Abelard Schwimmer nach Genf fahren?
    »L’officier anglais?« Der Ruf kam von den französischen Linien. Dann hörte Lysander auf Englisch: »Sind Sie noch da?«
    »Ja! Hier im Graben! Le fossé! «
    »Bewegen Sie sich nach links. Sobald Sie … « Die Stimme verstummte.
    »Sobald ich was?«
    »Sie sehen ein poteau rouge !«
    »Ein roter Pfosten! Je comprends! «
    »Das ist der Zugang durch das … ach, notre barbelé. «
    »Ich komme! Nicht schießen! Ne tirez pas! «
    »Aber ganz langsam!«
    Lysander stieg aus dem Graben und robbte nach links, so flach wie nur möglich. Auf einmal fühlte er sich vollkommen ungeschützt. Nachdem er sich etwa eine Minute lang gewunden und geschlängelt hatte, erblickte er einen roten Pfosten, der neben einer Lücke im Drahtgewirr eingeschlagen war. Er kroch darauf zu – nun konnte er sehen, dass der Pfosten eine Zickzackschneise durch das Labyrinth anzeigte.
    »Je suis là!« , brüllte er.
    Langsam kroch er durch die Lücke und erblickte weiter oben die mit Sandsäcken befestigte Brustwehr.
    »Ich komme!«, rief er, plötzlich von der Furcht ergriffen, dass man ihn nur herangelockt hatte, um ihn zu erschießen. Er reckte seine Mütze hoch, seine khakigrüne englische Armeemütze, und wedelte damit.

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