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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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Als Lysander die Sandsäcke erreichte, wurde er von starken Armen hochgehievt und sanft am Boden des Schützengrabens abgesetzt.
    Er blieb einen Moment auf dem Boden liegen und rang nach Luft, während er zu den Riesen aufblickte, die um ihn herum standen – bärtige dreckige Männer in schmutzigen blauen Uniformen, die seltsamerweise alle Pfeife rauchten. Sie blickten ihn ebenfalls neugierig an. Einer von ihnen sagte:
    »Pour sûr. Un véritable officier anglais.«
    Lysander saß in einem Unterstand, hielt einen Emaillebecher mit schwarzem ungesüßtem Kaffee in der Hand und verspürte einen nie gekannten Grad von Erschöpfung. Nur mühsam schaffte er es, den Becher an die Lippen zu führen, als höbe er einen schweren Felsblock oder eine bleierne Kanonenkugel. Er stellte ihn ab und schloss die Augen. Schlafen. Eine ganze Woche schlafen. Lysander hatte dem Offizier, in dessen Unterstand er sich gerade befand, den versiegelten Brief aus seinem Tornister überreicht. Die bärtigen blauen Riesen hatten ihn hierhergeführt. Jetzt brauchte er dringend eine Zigarette. Er tastete seine Taschen ab, bis ihm einfiel, dass er seine Packung in Dodds Unterstand hatte liegenlassen. Dodd. Wiley und Gorlice-Law. Hatte Gorlice-Law so inbrünstig nach Foley gerufen? Lysander konnte nur hoffen, dass sie alle …
    »Da ist er ja. Unser falscher Fuffziger.«
    Lysander sah sich um und musste blinzeln. In der Tür stand Fyfe-Miller. Sehr schick in einer Jacke mit gekreuzten Ledergurten, Jodhpurhose und auf Hochglanz polierten Reitstiefeln. Hinter ihm war der französische Offizier.
    »Notre mauvais centime« übersetzte Fyfe-Miller für den Franzosen, ohne sich einen Deut um die Aussprache zu scheren. Er half Lysander aufzustehen, mit seinem typischen leicht irren Grinsen. Lysander hätte ihn am liebsten geküsst.
    »Phase eins wäre hiermit abgeschlossen«, sagte Fyfe-Miller. »Das war der einfache Teil.«

TEIL DREI
    GENF 1915

1. Die Glockner-Briefe
    Die Fähre aus Thonon schob sich langsam in den Genfer Hafen; als der Motor umgesteuert wurde, um das Heck nach vorn zu bringen, erbebte das ganze kleine Schiff. Lysander – Abelard Schwimmer – verlor beinah das Gleichgewicht und klammerte sich an die Holzreling des Oberdecks, während Matrosen dicke graue Taue auswarfen und am Kai um die Poller legten, um die Fähre festzumachen. Die Gangway wurde herabgelassen, Lysander nahm seinen karierten Koffer und stellte sich in die Menge der Passagiere, die an Land drängten. Nach einer Weile trat auch er über die abschüssige Holzfläche auf Schweizer Boden. Vor ihm erstrahlte Genf im Morgenlicht, einzig die Kathedrale erhob sich über die rotbraunen und grauen Dächer, über die stattlichen Wohngebäude direkt am See – aus unerfindlichem Grund erinnerte sie ihn vage an Wien. Dahinter sanfte Hügel und in der Ferne das blendende Weiß verschneiter Kuppen. Er sog die Schweizer Luft tief ein, setzte seinen Homburg auf, dann machte sich Abelard Schwimmer auf die Suche nach seinem Hotel.
    Nachdem Lysander und Fyfe-Miller von der Front wieder ins Hinterland gelangt waren, wurden sie nach Amiens chauffiert, wo man für Lysander ein Zimmer im Hôtel Riche et du Sport reserviert hatte. Er legte sich sogleich ins Bett und schlief den ganzen Tag, bis Fyfe-Miller ihn am Abend wach rüttelte und ihm mitteilte, er müsse den Zug nach Paris nehmen. Von dort aus sollte er nach Lyon weiterfahren. Lysander schlüpfte in die Kleidung von Abelard Schwimmer – einen schlecht geschnittenen Anzug aus dunkelblauem Serge (der ihm auf Anhieb zu warm war), ein beiges Hemd mit weichem Kragen und vorgebundener Fliege sowie klobige braune Schuhe. Sollte Fyfe-Miller es darauf angelegt haben, seinen Geschmack zu beleidigen, hatte er erstklassige Arbeit geleistet, dachte Lysander. Er erhielt einen Pappkoffer mit rotem Schottenkaromuster, darin befanden sich ein paar frische Hemden und Unterhosen, außerdem war im Futter ein flaches Bündel Schweizer Franken versteckt, damit würde er zwei Wochen auskommen, erklärte Fyfe-Miller, und das sei mehr als genug Zeit, um die Mission zu erfüllen. Vollendet wurde diese Ausstattung durch einen dunkelgrünen Regenmantel und einen Homburger Hut.
    »Die ideale Verkörperung des homme moyen sensuel «, bemerkte Fyfe-Miller. »Sie sind ja nicht wiederzuerkennen.«
    »Ihre Aussprache ist schauderhaft«, antwortete Lysander. » Hhhommä mojen sensül – das versteht doch kein Mensch.« Er führte Fyfe-Miller die richtige Aussprache

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