Eine große Zeit
Lysander.
»Etwa dreihundert Meter, dort drüben. Sie können sie nicht sehen, mittendrin wellt sich der Boden ganz leicht.«
Das wusste Lysander bereits, genau wie er wusste, dass die Trümmer Überreste eines Familiengrabs waren. Sie sollten ihm nachts als Orientierung dienen.
»Was ist mit der Ruine?«
»Die hatten einen Verbindungsgraben angelegt, für Horchposten, aber wir haben sie vor einem Monat rausgebombt. Sie sind nicht wiedergekommen.«
»Das möchte ich mir heute Nacht genauer ansehen, Feldwebel. Gibt es hier Abflussgräben?«
»Ein paar. Alle ziemlich verstopft und überwuchert. Sehen Sie diese Weiden – drüben rechts?«
Lysander schwenkte den Feldstecher herum. »Ja.«
»Dort fängt der tiefste an. Er verläuft entlang unserer Front, dann macht er eine scharfe Biegung in den Stacheldrahtverhau der Froschfresser.«
Lysander vermerkte das alles auf seinem Plan – er würde sich nun leichter orientieren können. Außerdem hatte er die kleine Taschenlampe und seinen Kompass. Er käme schon zurecht.
»Wann wollen Sie losziehen?«, fragte Foley. Lysander fiel auf, dass er sich das »Sir« inzwischen schenkte.
»Wenn es am dunkelsten ist. Zwei, drei Uhr.«
»Es wird eine sehr kurze Nacht. Die Sommersonnenwende ist gerade erst vorbei.«
»Wir werden nicht lange brauchen. Ich muss nur ein paar Kleinigkeiten überprüfen. Binnen einer halben Stunde sind Siezurück. Sind wir zurück«, korrigierte Lysander sich hastig.
»Offenbar wird Leutnant Gorlice-Law uns begleiten«, sagte Foley. »Bisher war er noch nicht auf Patrouille. Hauptmann Dodd meint, dass es für ihn eine gute Übung wäre.«
»Nein«, antwortete Lysander. »Nur Sie und ich, Foley.«
»Ich pass schon auf den kleinen Kerl auf, Sir. Seien Sie ganz unbesorgt.« Der Feldwebel lächelte. »Halten wir den Hauptmann lieber bei Laune.«
Am Nachmittag flogen zwei Spähflugzeuge des Royal Flying Corps über die Gräben, und Lysander hörte zum ersten Mal Artilleriefeuer von den deutschen Linien. Danach fing in der Ferne jemand zu schreien an. Eine einsame Stimme irgendwo im Niemandsland. Die Männer lachten.
»Was schreit er denn? Wer ist das?«, fragte Lysander Foley.
»Er kommt fast immer nachmittags herausgekrochen, wenn es ruhig ist, und beschimpft uns. Man könnte die Uhr nach ihm stellen.«
Lysander stellte sich hinter die Brustwehr und lauschte. Schwach, aber vernehmlich drang durch das hohe Gras der Ruf: »Hey, ihr englischen Hurensöhne! Geht endlich nach Hause, ihr beschissenen englischen Hurensöhne!«
Lysander glaubte, auch auf der deutschen Seite Gelächter zu hören.
Nach dem Abendappell wurde er wieder zunehmend nervös. Im Geist ging er sämtliche Anweisungen noch einmal Punkt für Punkt durch. Verstohlen sah er nach den beiden Mills-Granaten No. 5 in seinem Tornister und vergewisserte sich zum zwanzigsten Mal, dass die Zünder drinsteckten. Gorlice-Law bereitete sich voller Begeisterung auf die Patrouille vor, schwärzte sich das Gesicht, reinigte seinen Revolver und lud ihn mehrmals.
»Wir erkunden nur das Gelände«, fühlte Lysander sich zu erklären bemüßigt. »Ich glaube nicht, dass es sich für Sie lohnt.«
»Ich bin erst seit zwei Tagen da«, antwortete Gorlice-Law. »Ich kann es gar nicht erwarten.«
»Damit eins klar ist: Beim ersten Anzeichen von Ärger suchen wir das Weite.«
Dodd befahl dem jungen Mann, sich das Gesicht zu waschen und den »Esstisch« – einen Türflügel, der auf zwei Munitionskisten ruhte – zu decken, mit den Worten: »Ich denke nicht daran, mit einem Mohren zu speisen, Leutnant.« Danach wurde das Abendessen aufgetragen, Doseneintopf und Hartkekse, gefolgt von Dosenplumpudding und dem Rest von Lysanders Whisky. Als es dunkel wurde, brachte Foley die Rumration. Ein starker Rum, wie Lysander feststellte, er roch intensiv nach Melasse und war so dickflüssig wie Hustensirup. Die Wirkung, die er nach dem Whisky auf Gorlice-Law hatte, war nicht zu übersehen – der Leutnant bekam glasige Augen, er konnte sich nur schwer konzentrieren, runzelte die Augenbrauen, schürzte die Lippen und artikulierte langsam, wenn er sprach.
Gegen halb zwei in der Frühe bugsierte Lysander ihn den Graben hinauf, um sich Foley am Ausstiegspunkt anzuschließen. Eine kurze Holzleiter lehnte an der Grabenwand gegenüber der Lücke im Stacheldrahtverhau. Foley trug eine aufgerollte Balaklava auf dem Kopf, eine dreckige Lederjacke mit Koppeltragehilfe, Shorts, Leinenturnschuhe und ein Paar Reservesocken,
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