Eine große Zeit
Revolver auf ihn.
»Treten Sie bitte zurück.«
Er gehorchte, erkennbar verängstigt, und Lysander schloss die Tür hinter sich ab. Mit dem Revolver bedeutete er Glockner, er solle ins Wohnzimmer gehen. Glockner gewann allmählich die Fassung wieder. Er steckte die Hände in die Taschen seines Morgenmantels und wandte sich Lysander zu.
»Falls Sie ein gebildeter Dieb sind, werden Sie vielleicht ein paar lohnende Bücher finden. Falls nicht, verschwenden Sie hier nur Ihre Zeit.«
Der Raum war mit Bücherregalen vollgestellt, manche verglast, andere nicht. Heller Parkettboden mit dunkelblauem Teppich. Ein tiefer Ledersessel neben einer Leselampe mit verstellbarem Schirm. Ein Schreibtisch samt Stuhl und an der einzigen freien Wand eine Reihe gerahmter Stiche – Stadtansichten. Hier wohnte tatsächlich ein Intellektueller – Florence Duchesne hatte ihn treffend beschrieben. Glockner sprach gut Französisch, mit einem kaum vernehmbaren deutschen Akzent. Er hatte ein ebenmäßiges, glattrasiertes Gesicht, war ungefähr Mitte dreißig und schielte ein wenig auf dem rechten Auge, was seinen Blick seltsam fehlgeleitet wirken ließ, als hörte er nicht richtig zu oder wäre nicht ganz bei der Sache.
Lysander zog den Stuhl vom Schreibtisch und stellte ihn in die Mitte.
»Setzen Sie sich bitte.«
»Sind Sie Deutscher? Wir können Deutsch sprechen, wenn Sie das bevorzugen«, sagte Glockner in seiner Muttersprache.
Lysander blieb bei Französisch.
»Bitte setzen Sie sich. Falten Sie die Hände hinter dem Rücken.«
»Aha, Engländer«, bemerkte Glockner vielsagend, er nickte und lächelte breit, als er sich setzte, wobei er eine umfassende Brücke mit Silbergerüst im Unterkiefer enthüllte.
Lysander stellte sich hinter ihn, entnahm seiner Reisetasche eine kurze Seilschlinge, die er um Glockners Handgelenke führte und fest zuzog. Nun konnte er den Revolver beiseitelegen. Mit weiteren Seilstücken band er Glockners Arme an die Stuhllehne. Dann steckte er den Revolver ein, stellte seine Reisetasche auf den Tisch und holte das Bündel 500er-Scheine heraus. Er deponierte das Bündel auf Glockners Knie.
»25000 Franc, erste Rate.«
»Hören Sie mir zu, Sie dämlicher englischer Schwachkopf–«
»Nein, Sie hören mir zu. Ich möchte von Ihnen nur die Antwort auf eine einfache Frage. Dann lasse ich Sie mit dem Geld allein. Niemand wird je erfahren, dass Sie mit mir gesprochen haben.«
Glockner beschimpfte ihn auf Deutsch.
»Und wenn Sie schön artig sind«, fuhr Lysander ungerührt fort, »bekommen Sie in einem Monat wieder 25000 Franc.«
Inzwischen hatte Glockner offenbar jede Selbstbeherrschung verloren. Beim Versuch, Lysander anzuspucken, verfehlte er ihn. Eine dünne blonde Haarsträhne fiel ihm geradezu neckisch in die Stirn. Während er Lysander weiterhin wüst beschimpfte, funkelte das Silber in seinem Mund.
Lysander schlug ihm – nicht allzu fest – ins Gesicht, er wollte ihn damit nur zum Schweigen bringen. Glockner empfand das sichtlich als Affront.
»Die Sache ist ganz einfach«, sagte Lysander nun auf Deutsch. »Wir wissen alles – die Briefe aus London, der Code. Uns liegen Kopien sämtlicher Briefe vor. Jetzt brauche ich nur noch den Schlüssel.«
Glockner sann über das Gehörte nach. Lysander hatte den Eindruck, dass diese Neuigkeiten ihn tatsächlich beunruhigten, als würde ihm erst jetzt bewusst, wie misslich seine Lage war.
»Ich habe ihn nicht«, antwortete Glockner mürrisch.
»Ein Schlüssel ist bei diesem Code unerlässlich – natürlich haben Sie ihn. Genau wie die Person, die Ihnen die Briefe zukommen lässt. An Ihnen haben wir kein Interesse, nur an jener Person. Geben Sie uns den Schlüssel, dann können Sie sich einen schönen Sonntag machen.«
Wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, fingen die großen Glocken der benachbarten Kathedrale zu läuten an, laut und volltönend.
»Sie haben gerade Ihr Todesurteil unterschrieben«, sagte Glockner, eine Spur zu auftrumpfend. »Ich habe den Schlüssel nicht, ich leite die Briefe nur nach Berlin weiter.«
»Sicher. Das kaufe ich Ihnen aber nicht ab.«
Lysander nahm das Geldbündel von Glockners Knien und zog eine Wäscheleinespule aus seiner Reisetasche, wickelte sie auf und fesselte Glockner komplett an den Stuhl – Brust und Arme, Oberschenkel und Schienbeine – , so fest wie eine Spinne, die mit klebrigen Fäden ein Netz um die erbeutete Fliege knüpft. Dann kippte er den Stuhl nach hinten, so dass Glockner am Boden
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