Eine große Zeit
lag.
Lysander beugte sich über ihn. Im Grunde wusste er nicht so recht, was er als Nächstes tun sollte. Die Bestechung war fehlgeschlagen, so viel stand fest. Allerdings befand sich Glockner nun in einer derart hilflosen Lage, dass der Boden für weitere »Überredungsversuche« bereitet war, das musste auch dem Deutschen klar sein.
»Sie könnten es leichter haben, Herr Glockner«, sagte er so überzeugend wie möglich. »Sie müssen nicht leiden. Sie sollten nicht leiden.«
Er lief im Zimmer auf und ab und betrachtete die Stiche an der Wand – Münchner Straßenszenen.
»Sind Sie aus München?«
»Sie werden diesen Tag nicht überleben«, sagte Glockner. »Man wird Sie ausfindig machen und töten – die Hintermänner wissen über alles Bescheid, was in dieser Stadt los ist. Um elf habe ich einen Termin. Wenn ich nicht erscheine, kommen sie direkt hierher.«
»Das heißt also, uns bleibt weniger als eine Stunde, um Sie zur Vernunft zu bringen.«
Wieder lief Lysander auf und ab. Er zog die Vorhänge zu und schaltete das elektrische Licht ein, während er fieberhaft nachdachte. Was hatte Massinger ihm doch gleich geraten? Hacken Sie ihm die Finger ab, einen nach dem anderen … O ja, wirklich zielführend. Und wie fange ich das an? Natürlich würde er es nie über sich bringen, den Mann zu verstümmeln, und so wurde Lysander von einer ohnmächtigen Wut erfasst, die sich gegen Massinger und dessen gnadenlose Selbstgefälligkeit richtete. Er hatte Massinger gebeten, genau diese Situation in Betracht zu ziehen – was tun, wenn Glockner unbestechlich bliebe? – , und sich damit nur eine beißende Abfuhr eingehandelt. Zunehmend frustriert verließ er das Wohnzimmer, um in die Küche zu gehen.
Die Wohnung war klein – außer dem Wohnzimmer gab es noch ein Schlafzimmer, ein Bad und eine blitzsaubere kleine Küche mit Herd, Specksteinspüle und Fliegenschrank. Lysander riss eine Schublade nach der anderen auf, er suchte nach einem Messer oder nach einer Schere – am besten eine Geflügelschere, damit ließe sich bestimmt ein Fingergelenk knacken. Er wollte Glockner bloß drohen, höchstens eine seiner Fingerspitzen kurz in die Zange nehmen, das mochte genügen, um ihm den gebotenen Schrecken einzujagen. Was man sich in der Fantasie ausmalt, ist manchmal schlimmer als das, was in Wirklichkeit passieren kann.
In der ersten Schublade befanden sich Putzutensilien – Reinigungsmittel, Topfkratzer aus Stahlwolle, diverse Spül- und Scheuerbürsten. In der zweiten entdeckte er zwar keine Scheren, dafür aber sehr scharfe Messer. Unter der Spüle erblickte er einen Eimer – der eignete sich möglicherweise als Requisite, um zu signalisieren, dass Blut fließen würde und aufgewischt werden müsste. Das könnte dieser Farce etwas Glaubwürdigkeit verleihen.
Plötzlich hielt Lysander inne – aus heiterem Himmel war ihm etwas eingefallen. Er zog die erste Schublade wieder auf und entnahm ihr die beiden Topfkratzer, einen für jede Hand – grobe Stahlmaschen, die einen kleinen weichen Ballen bildeten. Er überlegte – es wäre gar nicht nötig, auch nur einen Tropfen Blut zu vergießen … Er hielt die Topfkratzer unter den Wasserhahn, schüttelte sie aus, steckte sie in die Tasche und kehrte ins Wohnzimmer zurück.
»Das ist Ihre letzte Chance, Herr Glockner. Geben Sie mir den Codeschlüssel.«
»Ich sagte Ihnen doch, dass ich ihn nicht habe. Ich leite die Briefe nach Berlin weiter, wo sie entschlüsselt werden.«
»Die allerletzte Chance.«
»Wie heißt es doch auf Englisch? Ficken Sie Ihre Mutter, ficken Sie Ihre Schwester, ficken Sie Ihre Frau, ficken Sie Ihre kleine Tochter.«
Lysander beugte sich über ihn.
»Sie haben gerade einen schrecklichen Fehler gemacht.«
Er hielt Glockner mit zwei Fingern die Nase zu, und als dieser reflexartig den Mund aufriss, um nach Luft zu schnappen, stopfte Lysander ihm den ersten Topfkratzer hinein – und dann den zweiten.
Glockner schluckte und würgte. Die beiden Stahlwollekissen wirkten wie eine Kiefersperre und blähten seine Wangen auf. Er versuchte, sie mit der Zunge auszustoßen, aber sie steckten hinter seinen Zähnen fest.
Lysander ging zum Sessel, zog den Stecker der Leselampe heraus und riss das Kabel vom Sockel. Es handelte sich um ein schlichtes zweiadriges Kabel mit geflochtenen Drähten, deren Enden goldfarbig herausragten. Er zupfte sie auseinander, legte die Drähte frei und formte sie zu einem Y.
Er schleifte Glockner mitsamt Stuhl in die Nähe
Weitere Kostenlose Bücher