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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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verspürte er auf einmal das dringende Bedürfnis, sich zu entleeren.
    Die Fragen, die auf ihn einstürmten, verdrängte er vorerst. Jetzt nicht. Jetzt auf keinen Fall. Später.
    Er wandte sich Glockner zu, der offenbar in Ohnmacht gefallen war. Er hatte die Augen geschlossen und atmete flach. Lysander gab sich einen Ruck und richtete den Stuhl wieder auf. Glockners Kopf fiel zur Seite, ein dicker Speichelfaden hing ihm aus dem Mund und schwang leicht hin und her wie ein durchsichtiges Pendel.
    Lysander band Glockner rasch los und schleifte ihn zum Teppich, wo er ihn liegen ließ. Danach zog er das Kabel aus der Steckdose und wickelte es auf, bevor er es in die Tasche steckte. Glockners Aktenkoffer stand auf dem Boden neben dem Schreibtisch. Lysander klappte ihn auf, um das Bündel mit den 25000 Franc in eine Innentasche zu stopfen. Dann klappte er ihn wieder zu und stellte ihn auf den Boden zurück. Die Seile und Topfkratzer sammelte er ein und warf sie zusammen mit dem Libretto von Andromeda und Perseus in seine Reisetasche. Er warf einen letzten prüfenden Blick in Küche und Wohnzimmer. Dort strich er ein paar Wellen im Teppich glatt und rückte die Bücher in der zweiten Reihe des mittleren Regals so zurecht, dass keine Lücke zu erkennen war, bevor er die Türen schloss. Ein Mann, der ohne die geringste Spur von Gewaltanwendung bewusstlos auf dem Rücken lag. 25000 Franc in seinem Aktenkoffer. Eine Stehlampe ohne Kabel. Wer sollte diesen Fall lösen?
    Lysander verweilte kurz im Flur, um sich noch einmal jeden Punkt vor Augen zu führen. Danke, ehrenwerter Hugh Faulkner, danke sehr. Er fing an zu zittern. Beängstigend, wie leicht das gewesen war. Es musste kein Blut fließen, es hatte keine besondere Anstrengung erfordert, nur ein bisschen logisches Denken und die Anwendung von elektrischem Strom. Halt. Du musst dich konzentrieren. Er holte einen leichten Regenmantel und eine Baumwollschiebermütze aus seiner Reisetasche. Der Mann, der das Gebäude verließ, würde anders aussehen als der Mann, der es betreten hatte. Er ließ den Schlüssel innen stecken und zog die Tür hinter sich zu. Dann stieg er die Stufen ganz ruhig hinab, ohne jemandem zu begegnen, und stellte unten erleichtert fest, dass die Concierge offenbar noch in der Kirche war und der kleine Junge seinen Posten verlassen hatte. Lysander trat auf die Straße hinaus und ging los. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr: 10.40 Uhr. Sein Aufenthalt in der Wohnung von Herrn Glockner hatte keine ganze Stunde gedauert.

4. Der Unmensch
    Den Nachmittag verbrachte er damit, die Glockner-Briefe äußerst gewissenhaft zu entschlüsseln – das bewahrte ihn davor, an anderes zu denken. Während der Inhalt sich ihm nach und nach erschloss – es war mühsame Kleinarbeit – , begriff er, dass es um die Verschickung von Munition und Wehrmaterial aus England an diverse Frontabschnitte ging.
    Auf einem Blatt stand etwa: »Fünfzehnhundert Tonnen HauGe 15 cm nach St Omer nach Béthune.«
    Auf einem anderen: »Fünfundzwanzig Tau Kästen nach Allouagne.«
    Und weiter: »Eine Mil fünf Tau drei null drei Côte d’Aubers Sektor«; »Sechs Feldlazarette Dörfer hinter Lens«; »Munitionsdepots St Venant Lapugnoy erste Armee Strazeele Kavallerie«; »Sechzehn fdl Feldlaz. Grenay Vermelles Cambrin Givenchy Beuvry«; »Vierzehn Gr.mörser La Bassée-Kanal«.
    Die dichten Zahlenreihen, die in den sechs Briefen enthalten waren, ergaben im Verlauf seiner Entschlüsselungsarbeit eine erstaunlich lange und detaillierte Liste. Berücksichtigte man das Versanddatum der abgefangenen Briefe, ließ sich aus diesen Fakten recht genau erschließen, wo ein Angriff geplant war. Artilleriegeschosse, Munition für Handfeuerwaffen, Feldrationen und Einsatzverpflegung, Signalanlagen, Feldlazarette, Lasttiere, Transportmittel – auf den ersten Blick wirkte das fast zu beliebig, doch jeder, der sich mit militärischen Vorstößen auskannte, wäre in der Lage, diese Zeichen zu deuten und den Angriffssektor bemerkenswert präzise einzugrenzen.
    Außerdem stand für Lysander fest, dass diese Informationen von weit hinter den Frontlinien stammten – Umfang und Größenordnung betrafen keine Regimenter und Bataillone, sondern Armeen und Divisionen. Die Bataillone bezogen ihren Nachschub aus Depots, für deren Auffüllung diese Logistikbefehle sorgten. Der Befehlshaber war sogar noch weiter entfernt – da war die Rede von zehn 18-Pfünder-Batterien, die von Folkestone nach Le Havre

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