Eine große Zeit
der Steckdose. Anschließend steckte er das Kabel wieder hinein und streckte das nun stromführende »Y« Glockner entgegen.
Zunächst scheute Lysander noch davor zurück, sein Vorhaben auszuführen. Doch dann sprach er sich insgeheim Mut zu – es wäre nur eine kurze Berührung, kein Schneiden und kein Hacken, nichts Unanständiges, keine Klingen, die ins Fleisch eindringen, nur etwas, das sich durch Pech oder Ungeschick vermutlich weltweit täglich in allen Zahnarztpraxen abspielte. Glockner ging zum Zahnarzt – niemand nahm das gern auf sich, niemand konnte ermessen, wie viel Schmerz die Behandlung mit sich bringen würde. Es war jedes Mal ein Risiko.
»Offenbar gehen Sie regelmäßig zum Zahnarzt, Herr Glockner. Das ist sehr löblich. Leider wird Ihnen diese kostspielige Behandlung gleich unvorstellbare Schmerzen bereiten. Jeder einzelne Zahn in Ihrem Mund stößt an die Stahlwolle der Topfkratzer. Ihr reichlicher Speichelfluss – er tropft Ihnen ja schon aus den Mundwinkeln – ist ein hochwirksamer Elektrolyt. Wenn ich nun dieses stromführende Kabel an die Topfkratzer in Ihrem Mund halte … « Lysander verstummte kurz. »Tja, diese Qualen werden Sie ein Leben lang nicht vergessen.«
Er wedelte mit dem Draht vor Glockners Augen.
»Wenn Sie mir den Schlüssel zu Ihrem Code geben, bin ich in fünf Minuten weg. Nicken Sie einfach, falls Sie einverstanden sind.«
Von Glockner waren zwar ein paar Krächzlaute zu vernehmen, aber es war vor allem seine Mimik, die anschwellende Stirn und die irren Blicke, die Lysander zeigte, dass er ihn wieder nur beschimpfen wollte.
Lysander zögerte nicht länger. Er führte die elektrischen Drähte an den zerfaserten Rand des Topfkratzers, der zwischen Glockners entblößten Zähnen hervorschaute. Nur für die Dauer einer Sekunde.
Glockners animalischer Aufschrei war so markerschütternd, dass Lysander vor lauter Mitgefühl zusammenzuckte. Die akustische Entsprechung seiner entsetzlichen Pein. Lysander riss die Drähte zurück und beobachtete, selbst etwas mitgenommen, wie Glockner sich unter seinen Fesseln wand und mit dem Hinterkopf gegen das Parkett schlug, während ihm Tränen in die Augen schossen. Himmel. Großer Gott.
Lysander nahm ein Kissen von einem der Sessel und bettete Glockners Kopf darauf. Er wollte nicht riskieren, dass von unten jemand käme, um sich nach dem Lärm zu erkundigen. Ein anderes Kissen behielt er in der Hand, um etwaige neue Schreie zu dämpfen.
»Tja, Herr Glockner. Und das war gerade mal eine Sekunde. Stellen Sie sich vor, wie das sein wird, wenn ich die Drähte anlege und bis zehn zähle.«
Lysander wartete seine Antwort gar nicht erst ab – er wollte das so schnell wie möglich hinter sich bringen – , sondern drückte die Drähte in den Topfkratzer und warf das Kissen auf Glockners Gesicht. Eins, zwei – nein, dazu war er einfach nicht imstande. Er zog das Kabel weg und hielt das Kissen fest. Glockners Schreie wurden leiser und verwandelten sich in ein rhythmisches Schluchzen, eine Art Hecheln, fast wie bei einem Hund. Zitternd nahm Lysander das Kissen weg.
Glockners Gesicht schien eingefallen, als wären die Muskeln völlig erschlafft. Unter halb gesenkten Lidern blinzelte er unkontrolliert.
»Nicken Sie, wenn Sie mir den Schlüssel nun geben wollen.«
Glockner nickte.
So schnell wie behutsam zog Lysander die Topfkratzer aus dem klaffenden Mund. Glockner würgte mehrmals, drehte den Kopf und spuckte auf den Boden. Lysander stand auf und legte das immer noch stromführende Kabel vorsichtig auf den Tisch, wo er es mit einem Briefbeschwerer fixierte.
»Das haben Sie nun davon. Hätten Sie meine Frage auf Anhieb beantwortet, wäre Ihnen das erspart geblieben – und Sie wären jetzt ein reicher Mann. Wo ist der Schlüssel?«
»Im mittleren Bücherregal … « Glockner keuchte undstöhnte.
Lysander trat zum Regal und öffnete die Glastüren. Alles voller deutscher Literatur – Goethe, Schiller, Lessing, Schopenhauer, Liliencron …
»Zweite Reihe von oben. Das fünfte Buch von links.«
Lysander fuhr mit dem Finger über die Rücken. Die klassische Buchchiffre. Auch als SZWB-Code bekannt, wie Munro ihm erklärt hatte – Seite, Zeile, Wort, Buchstabe. Ohne das entsprechende Buch war dieser Code nicht zu knacken.
Hier, das fünfte Buch von links. Er zog es heraus.
Andromeda und Perseus.
Andromeda und Perseus. Eine Oper in vier Akten von Gottlieb Toller .
Lysander überlief es eiskalt, in ihm erstarrte alles. Dann
Weitere Kostenlose Bücher