Eine große Zeit
in London gesehen hatte. Er faltete die Blätter und steckte sie in die Tasche. Plötzlich überkam ihn eine Art Unruhe – aus dem Spiel war Ernst geworden.
»Morgen zeige ich Ihnen, wo Glockner wohnt. Ich würde vorschlagen, dass Sie ihn entweder mitten in der Nacht oder aneinem Sonntag aufsuchen – wenn im Haus alles ruhig ist.«
Morgen ist Freitag, dachte Lysander. Mein Gott …
»Dann sollte ich wohl zur Bank gehen«, sagte er.
»Das müssen Sie wissen«, antwortete sie teilnahmslos. »Ich werde Ihnen bloß die Wohnung zeigen. Alles Weitere ist Ihre Sache.« Sie trank ihren Dubonnet aus und stand auf. Lysander fiel auf, dass sie groß und ihr Kleid aus hochwertigem Stoff gemacht und gut geschnitten war. Madame Duchesne zog ihren Halbschleier wieder über die Augen.
»Offensichtlich sind Sie in Trauer … «
»Mein Mann war Offizier – Hauptmann – in der französischen Armee. Wir haben in Lyon gelebt. Er ist in der zweiten Kriegswoche gefallen, beim Rückzug aus Mühlhausen, August 1914. Ein Schuss hat ihn getroffen und schwer verletzt, man nahm ihn gefangen, ohne seine Wunden zu verarzten. Man hat ihn einfach sterben lassen. Ich stamme ursprünglich aus Genf, und so bin ich zurückgekehrt, um bei meinem Bruder zu sein.«
»Mein herzlichstes Beileid«, sagte Lysander etwas verhalten. Er fragte sich, wie man einer Fremden aufrichtig kondolieren sollte, zumal der Todesfall fast schon ein Jahr zurücklag.
Madame Duchesne wedelte mit der Hand, wie um die banale Floskel zu verscheuchen.
»Darum möchte ich Sie so gern bei diesem Krieg unterstützen. Unsere Alliierten. Das nur, um die Frage zu beantworten, die Ihnen sicher unter den Nägeln brennt.«
Das tat sie wirklich, aber Lysander beschäftigte noch etwas anderes.
»Diese Briefe an Glockner – hatten die einen Poststempel?«
»Ja, alle aus West-London. Und englische Briefmarken, natürlich, das hat mein Interesse geweckt. Ich habe eine Liste sämtlicher Angestellten beim deutschen Konsulat. Mein Bruder bringt mir deren Briefe routinemäßig immer zuerst. Wir sehen uns morgen, Herr Schwimmer.«
Sie nickte ihm leicht zu – eine fast unmerkliche Kopfbewegung – und ging mit festem, entschiedenem Schritt. Eine Frau, die ihren Überzeugungen treu war. Lysander musste sich eingestehen, dass ihre bittere Strenge, ihre eherne Trauer und tiefe Melancholie einen gewissen Reiz auf ihn ausübten. Wie sie wohl im Bett aussah, nackt, von Champagner beschwipst, sich kringelnd vor Lachen … Er bestellte sich noch ein Glas Münchner Helles. Allmählich fand er Geschmack an diesem Bier.
2. Die Brasserie des Bastions
Lysander und Madame Duchesne saßen in einem Café fast direkt gegenüber dem Eingang von Glockners Wohnhaus. Es war Mittag. Madame Duchesne trug selbstverständlich Schwarz, hatte diesmal allerdings auf den Schleier verzichtet. Lysander hätte gern gewusst, wie sie mit Vornamen hieß, ahnte jedoch, dass er einer so flüchtigen Bekannten diese Frage nicht stellen durfte. Die Witwe lud nicht zu Vertraulichkeiten ein. Bei näherer Überlegung wurde ihm klar, dass der Kontakt vermutlich enden würde, sobald sie ihm Glockner gezeigt hätte – damit hätte sie ihre Mission erfüllt.
»Heute ist er später dran als sonst«, sagte sie.
Lysander fiel das geschlossene Goldmedaillon auf, das sie um den Hals trug – es enthielt bestimmt ein Bild des verstorbenen Capitaine Duchesne.
»Da ist er«, fügte sie hinzu.
Lysander sah einen eleganten, mittelgroßen Mann aus dem Gebäude treten. Er trug einen leichten rehbraunen Mantel und einen Fedorahut. Dazu Gamaschen, einen Gehstock und einen Aktenkoffer. Ob er einen Schnurrbart hatte, konnte Lysander nicht erkennen, weil der Mann sich bereits umgedreht hatte und die Straße hinunterlief.
»Gibt es eine Concierge?«, fragte er.
»Ich gehe davon aus.«
»Tja. Da werde ich mich wohl an ihr vorbeischummeln müssen.«
»Das ist einzig und allein Ihr Problem, Herr Schwimmer.« Madame Duchesne stand auf.« Sie wünschte ihm auf Englisch viel Glück und dann noch bon courage .
Lysander stand ebenfalls auf. Wenn es nach ihm ginge, sollte dies nicht ihr letztes Treffen sein.
»Dürfte ich Sie heute Abend vielleicht zum Essen einladen, Madame Duchesne? Ich bin nun schon seit vier Tagen in der Stadt und langweile mich allmählich in meiner Gesellschaft.«
Sie sah ihn forschend an, wobei ihr hartes Gesicht keine Regung zeigte. Er stellte fest, dass ihre Augen dunkelbraun waren. Du Trottel, dachte er – das hier
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