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Eine Hand voll Asche

Eine Hand voll Asche

Titel: Eine Hand voll Asche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jefferson Bass
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Eisenbahnschienen näherte, schloss sich ihm ein Mann an, nahm ihn am Arm und hielt ihn zu einem kurzen Gespräch am Rand der Dunkelheit an.
    Es war ein freiwilliger Helfer von Lost Sheep, erkannte ich, der sich wahrscheinlich Sorgen um das Wohlergehen des Mannes machte. Doch es hätte genauso gut Garland Hamilton sein können, der ihm auflauerte – der einem heruntergekommenem Alkoholiker, der buchstäblich für ein Glas sterben würde, ein paar Dollar anbot.
     
    Die unwirkliche Szene unter der I-40 stand mir am nächsten Morgen noch lebhaft vor Augen, als ich im Knochenlabor Schädelfragmente studierte. Als das Telefon klingelte, ignorierte ich es, denn ich war völlig vertieft in das Oval eines zusammengestückelten Schläfenbeins, das ich in einer Hand hielt, und die schartige Scherbe, die ich mit einer Pinzette in der anderen Hand hielt. Nach dem sechsten Klingeln schwieg das Telefon, nur um wieder von vorne zu beginnen. Ich warf einen Blick auf das Display und sah, dass es Peggy war, die einzige Anruferin, die ich nicht ignorieren konnte. Ich seufzte, legte das größere Segment auf die Sandschicht in der Kuchenform und das einzelne Stück zurück auf das Tablett mit den unzähligen anderen Stücken.
    »Hallo, Peggy«, knurrte ich.
    »Sind wir heute Morgen etwa ein wenig brummig?«
    »Ja«, sagte ich. »Tut mir leid.«
    »Da ist eine Lisa Wells für Sie in der Leitung«, sagte Peggy.
    »Wells?« Der Name sagte mir nichts. »Könnten Sie eine Nachricht entgegennehmen? Ich habe im Augenblick alle Hände voll zu tun.«
    Einen Augenblick später klingelte das Telefon wieder; und wieder war es Peggy. Ich griff leise fluchend nach dem Hörer. »Was gibt’s denn?«
    »Es tut mir leid, Dr. B., aber Ms. Wells sagt, es wäre wichtig. Sie sagt, sie kennt vielleicht den Obdachlosen, den Sie suchen.«
    »Oh, stellen Sie sie durch«, sagte ich. Einen Augenblick später wurden die leisen Hintergrundgeräusche aus Peggys Büro in meinem rechten Ohr abgelöst von lautem Straßenlärm – vorbeirauschende Autos, in Schlaglöcher rumsende Reifen, ein irgendwo im Hintergrund dröhnender Presslufthammer. »Hallo«, sagte ich, »ist das Lisa mit den Grübchen?«
    »Wie bitte?« Ich wusste nicht, ob sie verdutzt war oder mich bei dem ganzen Lärm schlicht nicht verstanden hatte.
    »Hallo, hier ist Dr. Brockton«, sagte ich ein wenig lauter und formeller. »Klingt, als wäre im Tagesraum viel los.«
    »Ich bin zum Telefonieren rausgegangen«, erwiderte sie. »Da drin gibt’s kaum Privatsphäre. Dr. Brockton, ich habe lange über das nachgedacht, was Sie mich gestern gefragt haben.«
    »Nachdenken ist gut«, sagte ich.
    »Ich bin in einer schwierigen Position«, sagte sie. »Ich muss die Privatsphäre unserer Klienten schützen, aber seit unserem Gespräch mache ich mir Sorgen um einen Mann, der eigentlich regelmäßig kommt, einen Mann namens Freddie. Er war die letzten sechs Monate fast jeden Tag hier, aber jetzt habe ich ihn über eine Woche nicht gesehen.« Sie zögerte. »Er trinkt, aber in letzter Zeit ging’s ihm besser. Als er nicht mehr aufgetaucht ist, habe ich mir Sorgen gemacht, er wäre auf Sauftour gegangen. Jetzt fürchte ich Schlimmeres.«
    »Können Sie mir Freddie beschreiben – weiß, schwarz, klein, groß, jung, alt?«
    »Weiß«, sagte sie. »Mittleres Alter, irgendwo zwischen fünfundvierzig und sechzig. Obdachlose altern im Allgemeinen schneller, das Leben auf der Straße hat seinen Preis. Wahrscheinlich knapp ein Meter achtzig groß, dünn. Vielleicht fünfundsiebzig Kilo.«
    »Erinnern Sie sich an seine Zähne?«
    »Sie meinen, ob er welche hatte?«
    Ich lachte. »Nun, das wäre ein Anfang.«
    Sie lachte ebenfalls. »Manche haben keine«, sagte sie. »Davon abgesehen, nein, ich erinnere mich nicht an seine Zähne.«
    »Dann nehme ich an, Sie wissen nicht, wie wir an seine Zahnarztunterlagen kommen könnten?«
    »Zahnarztunterlagen? Nein«, sagte sie. »Die Leute, mit denen wir arbeiten, kommen gerade mal so durch, Dr. Brockton. Wir haben einen Zahnarzt, der einen Tag im Monat unentgeltlich behandelt, um für das Allernotwendigste zu sorgen, aber Zahnarztunterlagen? So etwas haben unsere Klienten in der Regel nicht.«
    »Das habe ich mir schon gedacht«, sagte ich, »aber fragen musste ich. Es wäre sehr viel leichter, das verbrannte Skelett zu identifizieren, wenn wir Röntgenbilder der Zähne hätten.«
    »Röntgenbilder?« Selbst bei dem ganzen Straßenlärm hörte ich, dass ihre Stimme sich

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