Eine Hand voll Asche
Nachwelt festhalten.«
Er schüttelte den Kopf. »Der Grund, warum wir dich so schnell von der Body Farm wegverfrachtet haben, ist, dass er nur einen Steinwurf von dort entfernt war, als er entkam.« Ich starrte Art verständnislos an. »Er war in der Notaufnahme des Unikrankenhauses. Sie hatten ihn eilig dort hingeschafft, weil er Krämpfe bekommen hatte«, sagte Art. »Oder Krämpfe bekommen zu haben schien . Als sie ihn in die Notaufnahme schoben, sprang er von der Fahrtrage und verschwand in einem Treppenhaus.«
»Verdammt«, sagte ich, »das ist der denkbare schlechteste Ort, um ihn zu verlieren. Er kennt jeden Winkel des Krankenhauses. Wenn sie es nicht innerhalb von sechzig Sekunden abgeriegelt haben, hatte er hundert Möglichkeiten zu entkommen.«
»Sie haben es nicht innerhalb von sechzig Sekunden abgeriegelt«, sagte Art.
Das hätte er mir nicht sagen müssen. Der Chor an Hubschrauberrotoren und Polizeisirenen hatte mir verraten, dass Hamilton entwischt war. Was ich nicht wusste, war, wohin er wollte und was er vorhatte: Würde er sich versteckt halten, sich davonmachen oder noch einmal versuchen, mich umzubringen?
Vierundzwanzig Stunden später stand ich immer noch unter Schock. Ich hatte eine schlimme Nacht gehabt, gefolgt von einem grässlichen Tag und einer noch miserableren Nacht. Bei jedem plötzlichen Geräusch zuckte ich zusammen, und das Einzige, was schlimmer war als das Telefonklingeln, war, dass es nicht klingelte – dass Hamilton lautlos entkam.
Eine Überwachungskamera zeigte, dass Hamilton sich, wenige Minuten nachdem er von der Fahrtrage gesprungen war, durch die Hintertür des rechtsmedizinischen Instituts verdrückt hatte. Er war schon draußen, bevor die ersten Polizeieinheiten eintrafen. Irgendwo zwischen der Notaufnahme und dem Ausgang des rechtsmedizinischen Instituts hatte er ein Paar Handschuhe und eine OP-Maske übergestreift. Ein Assistenzarzt in der Pathologie erklärte der Polizei später, er glaube, er habe Hamilton kurz im Flur gesehen, doch er habe den Gedanken verworfen, da er ja wusste – oder zu wissen glaubte – , dass Hamilton in Haft sei.
Sobald er aus dem Aufnahmebereich der Kamera an der Laderampe war, hatte Hamilton sich vollkommen in Luft aufgelöst. Es war möglich, dass er sich in einem Wäschereifahrzeug oder einem der anderen Versorgungsfahrzeuge versteckt hatte, die den Krankenhauskomplex jeden Tag anfuhren und verließen. Es war auch möglich, dass er einfach über einen Parkplatz spaziert und in dem Wald verschwunden war, der das Gelände im Süden und Westen säumte. Nach zwei Tagen intensiver Suche – mit Spürhunden, Hubschraubern und Dutzenden von Beamten der Polizei von Knoxville, Hilfssheriffs aus Knox County und Kriminalbeamten aus Tennessee – gab es immer noch keine verwertbaren Spuren.
Hamiltons Flucht war der Aufmacher im Knoxville News Sentinel und in sämtlichen regionalen Fernsehsendern. Fotos von ihm, von Jess und von mir wurden an prominenter Stelle gezeigt, und mein Haus war wieder einmal belagert von Reportern, die lautstark nach kurzen, prägnanten O-Tönen verlangten, wie es sich denn anfühle, dass der Mann, der Jess umgebracht und auch mich zu töten versucht hatte, auf freiem Fuß war. Der einzige Trost in dem Medienwirbel war, dass Hamilton, sollte er sich im Umkreis von einer Meile um mein Haus herum zeigen, sofort von mehreren Nachrichtenteams zumindest auf Video eingefangen werden würde. Die zwei Tage nach seiner Flucht waren mit die finstersten meines Lebens – übertroffen nur von Kathleens Tod, dem Mord an Jess und meiner Verhaftung.
Am dritten Tag erhob ich mich von den Toten oder zumindest aus der mentalen Totenstarre, in der ich versunken war. Die einzige Möglichkeit, mich von Hamilton abzulenken, so viel wurde mir an dem Tag klar, war, mich mit etwas anderem zu beschäftigen. Etwas, womit ich mich beschäftigen konnte, waren Burt DeVriess’ Fragen zur Einäscherung seiner Tante Jean.
Ich rief Helen Taylor beim East-Tennessee-Krematorium an und bat sie um Verzeihung, dass ich sie vor zwei Tagen versetzt hatte. »Wenn Sie immer noch bereit sind, mir alles zu zeigen, wäre ich Ihnen sehr dankbar, aber wenn Sie sich im Augenblick nicht damit abgeben wollen, verstehe ich das auch.«
Sie versicherte mir, dass sie nicht verärgert war – sie hatte mich nach Hamiltons Flucht im Fernsehen gesehen –, und lud mich ein, so bald wie möglich vorbeizukommen.
»Sind dreißig Minuten zu bald?«, fragte
Weitere Kostenlose Bücher