Eine Hand voll Asche
anstieg. Sie zog einen Aktendeckel mit Entwurfszeichnungen und Grundrissen des neuen Gebäudes heraus. Mir fiel auf, dass es drei Einäscherungsöfen haben würde statt nur zwei, und mir fiel auch ein großer Raum auf, der mit »Kühlraum« beschriftet war. Ich fragte sie danach. Der Kühlraum würde bis zu sechzehn Leichen aufnehmen können, erklärte sie mir stolz.
»Sechzehn? Das sind aber viele«, sagte ich. »Fast so viele, wie der Kühlraum des regionalen rechtsmedizinischen Instituts fassen kann. Sie haben aber nicht vor, Leute abzuschlachten, oder?«
Sie lachte. »Nein, das ist gar nicht nötig. Hier kommen am Tag bis zu sechs, sieben Leichen rein«, sagte sie. »Nicht jeden Tag, aber wenn, brauche ich einen Ort, wo ich sie hinlegen kann. Können Sie sich vorstellen, an einem Tag wie heute hier vier oder fünf Leichen zu stapeln?« Da hatte sie recht. Das kleine Gebäude hatte eine Klimaanlage, doch bei der brennenden Sonne draußen und der Hitze der Öfen drinnen lag die Temperatur wahrscheinlich bei zweiunddreißig Grad. Sie brauchte einen Kühlraum, und wenn das Geschäft weiter so wuchs, wie sie gesagt hatte, würde es wohl nicht lange dauern, bis sie die Kühlkammer voll hatte. Ich war beeindruckt, und als ich das sagte, strahlte sie.
»Wenn Sie mir vor zwanzig Jahren erzählt hätten, dass ich heute so etwas machen würde, hätte ich Ihnen nicht geglaubt«, sagte sie. »Aber hier bin ich, und ich liebe meine Arbeit.«
»Manchmal bin ich auch überrascht, wo ich gelandet bin«, sagte ich, »aber ich möchte meine Arbeit gegen nichts eintauschen. Ich langweile mich nie, kann manchmal etwas Gutes für die Opfer oder die Angehörigen tun und lerne interessante Menschen wie Sie kennen.«
»Dann schauen wir uns die Sache doch mal an«, sagte sie und führte mich durch eine Verbindungstür in den technischen Bereich des Krematoriums, der genauso spartanisch und zweckmäßig eingerichtet war, wie das Äußere hatte vermuten lassen. Die Garage war quasi eine Doppelofengarage, die Einäscherungsöfen parkten nebeneinander, ihre Vorderseiten aus rostfreiem Stahl strotzten vor Skalen, Knöpfen und Lämpchen. Helen drückte an dem linken Ofen einen Knopf, und eine dicke Tür glitt nach oben und gab den Blick frei in das gewölbte Innere, rund zweieinhalb Meter lang, gut einen halben Meter hoch und knapp zwei Meter breit. Die Innenwände der Ofenkammer waren aus Backsteinen gemauert – einem hellen, verrußten Backstein, ähnlich wie die Brennöfen für Keramik, die ich schon gesehen hatte.
Ich ging näher heran, um mir den Ofen genauer anzusehen. »Dürfte ich den Kopf reinstecken?«
»Selbstverständlich«, sagte sie. »Lassen Sie mich nur vorher den Sicherheitsriegel vorschieben. Ich möchte nicht, dass die Tür runterfällt und sie enthauptet.« Die Tür war fünfzehn Zentimeter dick, und ihre Stahlverkleidung war mit einer Schicht Schamottesteinen isoliert; sie wog wohl mindestens fünfzig Kilo. Helen schob einen kräftigen, L-förmigen Splint in einen Schlitz an der Unterkante der Falltür. Was dem Gewehr die Sicherung, war dieser Guillotine der Splint.
Die Schamottesteine – feuerfeste Ziegel, wie Helen sie nannte – waren gelbgrau und feinkörnig und wiesen da, wo kleine Stückchen abgebrochen waren, mehrere hellere Flecken auf. Ich langte hinein und fuhr mit dem Finger über einen solchen Fleck. Ein paar Körnchen, von der Beschaffenheit her irgendwo zwischen Sand und Keramik, rieselte in meine Hand. »Bröselt das im Laufe der Zeit ab?«
Sie nickte. »Die Öfen müssen ungefähr alle zwei Jahre neu ausgemauert werden.«
Die Decke und der Boden der Verbrennungskammer waren aus Beton; Risse zogen sich wie ein Spinnennetz durch das gewölbte Dach. »Sind diese Risse ein Problem? Können Sie sie einfach überputzen, oder müssen Sie die ganze oberste Schicht abklopfen, wenn neu ausgemauert wird?«
»Die sind normal«, sagte sie. »Diese Risse bilden sich beim allerersten Mal, wenn man einen ganz neuen Einäscherungsofen in Betrieb nimmt. Die Hitze ist einfach extrem hoch.«
Als ich mich noch weiter hineinbeugte, tauchte vor meinem geistigen Auge plötzlich ein Bild von Hänsel und Gretel auf. »Sie werden mich doch nicht reinschubsen«, sagte ich, »und Pfefferkuchen aus mir backen?«
»Eher nicht.« Sie lachte. »Wenn ich den Brenner einschalte, sehen Sie beim Rauskommen einem Pfefferkuchenmann in nichts ähnlich. Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Vorher-Nachher-Versionen. Ein ziemlicher
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