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Eine Hand voll Asche

Eine Hand voll Asche

Titel: Eine Hand voll Asche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jefferson Bass
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die den Lotsen der Schleppschiffe zeigten, wie viel lichten Raum sie zwischen der Wasserlinie und der Unterseite der Brücke hatten. Warum heißen die eigentlich Schleppschiffe , überlegte ich, wo sie die Frachtkähne doch schieben und nicht ziehen? Bei all der Hitze und der Dürre stand der Fluss so niedrig, wie ich ihn im Sommer noch nie gesehen hatte. Das hieß, dass es nach oben ziemlich viel Raum gab – den Markierungen zufolge gut siebzehn Meter, über einen halben Meter mehr als gewöhnlich. Doch einen halben Meter mehr Platz oben hieß auch einen halben Meter Wasser weniger unter dem Kiel. Hier, wo der Fluss schmal und das Flussbett tief war, war das kein Problem, doch ein paar Meilen flussabwärts wurde er breit und seicht, da lief selbst ein Fischerboot das Risiko, dass der Propeller kaputtging, wenn es von der Mitte der Fahrrinne abwich. Wir brauchen Regen , dachte ich, und eine gewaltige Kaltfront .
    An der Kreuzung Neyland Drive und Kingston Pike bog ich rechts ab und nahm dann noch einmal die Nächste rechts auf die Auffahrt zum Alcoa Highway Richtung Süden. Als ich die hohe Betonbrücke überquerte, unter der ich eben noch hindurchgefahren war, schaute ich flussabwärts, wo die Villen von Sequoyah Hills das rechte Flussufer säumten. Ich wohnte in Sequoyah, doch mein Haus – das in einem nicht recht ins Viertel passenden bescheidenen kleinen Karree mit Bungalows und Ranchhäusern lag – war wahrscheinlich nur ein Zehntel so viel wert wie diese Villen am Fluss. Als ich als Professor an der University of Knoxville angefangen hatte, hätte ich eines der großen Häuser kaufen können, doch der Preis – fünfundfünfzigtausend Dollar – war mir damals astronomisch hoch vorgekommen, zumindest angesichts meines Professorensalärs. Zwanzig Jahre später war dieses Haus mindestens eine Million wert, wenn nicht gar mehr. Die Anwesen direkt am Wasser waren sogar noch teurer. »Ja, aber ich muss mir keine Sorgen machen, dass mir das Kielwasser der Kanalboote den Garten abträgt«, sagte ich laut und lachte dann über mich. »Okay, Brockton, du redest nicht nur mit dir selbst, das, was du da von dir gibst, ist auch noch absolutes Blech.«
    Zu meiner Linken ragten das Unikrankenhaus und die Hügel hinter der Body Farm auf. Zur Rechten schmiegten sich die Weiden des landwirtschaftlichen Instituts – grüne, mit schwarzweißen Holsteiner Kühen gesprenkelte Wiesen – in die große Flusskehre. Es war die Stelle, wo der Tennessee River zum ersten Mal nach Süden bog und mit seinen Serpentinen in Richtung Golf von Mexiko begann, gut zweieinhalbtausend mäandernde Kilometer von hier.
    Aus einem Impuls heraus fuhr ich an der Ausfahrt Cherokee Trail ab – der Ausfahrt zum Unikrankenhaus – und schlängelte mich unter dem Highway durch und in die hintere Ecke des Parkplatzes der Krankenhausmitarbeiter. Wir hatten vor einigen Wochen eine Leiche zur Verfügung gestellt bekommen, und ich erinnerte mich an eine Notiz im Krankenblatt, wonach der Spender, ein Mann in den Siebzigern, zwei Jahre vor seinem Tod zwei künstliche Kniegelenke bekommen hatte. Damit waren seine Knie neuer als alles, was ich aus den Schachteln in der Skelettsammlung ausgraben konnte, und ich hatte plötzlich das Verlangen, sie mir anzusehen.
    Ich fand ihn direkt neben dem Hauptweg, der sich in den Wald hinauf und Richtung Fluss wand. Er lag neben einem umgestürzten Baumstamm auf dem Rücken. Der Schädel war abgetrennt und lag ein Stück hangabwärts vom postkranialen Skelett. Nicht weit davon stand ein Kamerastativ mit einem etwas fehl am Platze wirkenden schwarzen Briefkasten obendrauf. Der Briefkasten war ein behelfsmäßiges Gehäuse für eine Nachtsichtkamera, die, geschützt durch das wasserdichte Plastik, mit einem Bewegungsmelder verbunden war, sodass wir, wenn nächtliche Fleischfresser – hauptsächlich Waschbären und Opossums – auf Futtersuche vorbeikamen, ihre Nahrungsgewohnheiten studieren konnten. Es war das Projekt eines Doktoranden, und ich hatte über einige Fotos gestaunt, auf denen knuddelige Waschbären zu sehen waren, wie sie tief in Körperhöhlen langten, um besondere Delikatessen herauszuholen. An Wangenknochen, Händen und Füßen waren die Nagespuren glasklar – oder doch eher im Mittagsdunst – zu erkennen. Aber im Augenblick interessierte ich mich mehr für die scharnierähnlichen Eisenwaren, die sich dort befanden, wo einst die Knie gewesen waren.
    Ich hatte während meiner Karriere als Universitätslehrer

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