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Eine Hand voll Asche

Eine Hand voll Asche

Titel: Eine Hand voll Asche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jefferson Bass
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Unterschied.« An einer Wand des Gebäudes stand eine metallene Fahrtrage, darauf ein Pappkarton von der Größe und Form eines Sargs. Sie hob den Deckel so weit an, dass ich einen Blick hineinwerfen konnte.
    Ein alter Mann – keinen Tag jünger als neunzig, schätzte ich – lag darin, ein wenig von der Mitte verrutscht. Er war dünn und hager und war eindeutig seit Jahren geschrumpft. In dem Karton war Platz für ihn und zwei weitere Leichen seiner Größe. Das Gesicht des Mannes war eingefallen, und ich wusste, ohne seine Lippen zu berühren, dass sein Kiefer zahnlos war. Die Zahnfächer waren wahrscheinlich längst verschwunden, in den letzten zehn oder zwanzig Jahren geglättet, da der Knochen sie resorbiert und ausgefüllt hatte.
    »Sieht aus, als hätte er ein langes Leben gehabt«, sagte ich.
    »Sein Sohn hatte ein langes Leben«, erwiderte sie.
    Ich trat von der Trage zurück, und Helen legte den Deckel wieder auf. Dann schob sie die Fahrtrage vor den klaffenden Schlund des Ofens. »Hier«, sagte ich, »lassen Sie sich helfen.«
    »Oh, das geht schon«, sagte sie. »Ich mache das fünf-, sechsmal am Tag. Es ist nicht schwer. Die Trage hat oben Rollen.« Sie gab dem einen Ende des Kartons einen Schubs, und er glitt mühelos hinunter, bis er nur noch halb auf der Trage lag und sein vorderes Ende auf den Boden des Ofens kippte. Sie schubste ein wenig fester, und ich hörte, wie der Boden des Kartons über den Beton schrammte.
    Sobald der Karton ganz drin war, zog sie den Splint heraus und drückte auf den Knopf, der die Ofentür herabsenkte. Dann presste sie einen rot glühenden Knopf, der mit »Nachbrenner« beschriftet war, und ich hörte ein tiefes Brausen, wie wenn ein Gasofen angezündet wird. »Ich wusste, dass Jagdflugzeuge einen Nachbrenner haben«, erklärte ich, »aber dass Einäscherungsöfen auch so etwas haben, ist mir neu. Ist er schneller als der Schall?«
    Sie verdrehte die Augen über den lahmen Witz.
    »Jetzt mal im Ernst, warum schalten Sie den Nachbrenner zuerst ein?«
    »Der ist in einer zweiten Brennkammer, direkt vor dem Abgasrohr«, erklärte sie. »Sorgt dafür, dass alles verbrannt wird, bevor die Gase aus dem Schornstein entweichen. Wenn die Kraftwerke der Tennessee Valley Authority ihre Kohle so sauber verbrennen würden, hätten wir bei weitem nicht so viel Dunst zwischen Knoxville und den Bergen.«
    Sie tippte mit dem Finger auf eine kleine Glasscheibe in der Tür, kaum größer als das Guckloch in meiner Haustür. »Wenn Sie wollen, können Sie da reinschauen«, sagte sie, »aber viel werden Sie nicht sehen. Hauptsächlich Flammen.« Sie drückte einen grün schimmernden Knopf, der mit »Frühzündung« beschriftet war, und ich legte ein Auge an das winzige Fenster. Ein gelber Feuerstrahl, etwa so groß wie die olympische Fackel, schoss aus dem Loch im Dach des Einäscherungsofens nach unten und wurde da, wo er auf den Deckel des Kartons traf, breiter. Innerhalb weniger Augenblicke begann der Karton zu brennen, und die Flamme breitete sich weiter aus. »Okay«, hörte ich Helen sagen, »jetzt schalte ich den Hauptbrenner ein.« Die gelbe Flamme wurde plötzlich blau und füllte den ganzen oberen Teil der Brennkammer aus. Fasziniert sah ich zu, wie der Karton zusammenfiel und den Blick auf die Konturen des gebrechlichen Körpers freigab. Und dann sah ich, für einen kurzen Augenblick, bevor Flammen und Rauch mir vollkommen den Blick versperrten, das welke Fleisch Feuer fangen, und irgendwie erschien es mir wie etwas Reinigendes, ja sogar Heiliges. »Asche zu Asche, Staub zu Staub«, flüsterte ich. Es war ein improvisierter Segensspruch aus unberufenem Munde – schließlich war ich ein stets zweifelnder Wissenschaftler, der sich jeden Tag mit dem Tod befasste – für einen vollkommen Fremden, einen Mann, dem ich nie zuvor begegnet war und den ich nie wiedersehen würde.
    Nach einem Augenblick trat ich zurück und wandte mich zu Helen um. Sie beobachtete mich eindringlich, wie mir auffiel, und es schien ihr ein wenig peinlich zu sein, dabei erwischt zu werden. Es war, als wüsste sie, dass sie ein privates Gespräch belauscht hatte. »Witzige Sache«, sagte ich. »Ich habe dauernd mit Leichen zu tun – erst letzte Woche habe ich bei einem Experiment zwei Leichen verbrannt –, aber das hier ist etwas anderes. Das war ein Mensch.« Sie nickte. Ich sah, dass sie verstand, was ich meinte, und dass ich ihr mit meinen Worten die Verlegenheit genommen hatte.
    »Möchten Sie jetzt die

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