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Eine Hand voll Asche

Eine Hand voll Asche

Titel: Eine Hand voll Asche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jefferson Bass
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Doc Martens aus und zwängte mich in eine dicke Skiunterhose, damit meine Beine warm blieben. Als Nächstes schob ich die Beine in einen weiten Tyvek-Overall, zog die Schuhe wieder an und darüber Überschuhe aus Papier, denn wahrscheinlich war in den Kühlanhängern hier und da auf dem Boden mit Schmiere zu rechnen. Ich stopfte einige Paar Nitril-Handschuhe in die Gesäßtasche des Overalls, hängte mir die Kamera um den Hals und klemmte mir einen dicken Pullover unter einen Arm. Im Kühlwagen würde ich den Pullover brauchen, aber ich wollte ihn jetzt noch nicht anziehen. Bevor ich zurück zu Hänger drei ging, warf ich noch einmal einen Blick auf das Foto, das Burt DeVriess mir mitgegeben hatte. Burts Tante Jean lächelte mich von dem Foto an. Sie trug ein himmelblaues Kleid und um den Hals eine schwarze Perlenkette – ein Geburtstagsgeschenk. In diesem Kleid war sie jahrelang zur Kirche gegangen, hatte Onkel Edgar gesagt. Im Süden ließen sich die Menschen oft in den Kleidern beerdigen, die sie zum Kirchgang trugen. Die Perlen hatte Onkel Edgar nach dem Gedenkgottesdienst als Erinnerung behalten, doch ich hoffte, dass das Kleid, oder wenigstens seine schwarzen Plastikknöpfe, überlebt hatte.
    Ich stieg wieder zu Anhänger drei hinauf, trat ein, klinkte die Tür hinter mir zu, schlüpfte in den Pullover und zog den Reißverschluss des Overalls zu. Wo sollte ich anfangen? »Ene, mene, mu, und raus bist du«, sagte ich und zeigte dabei abwechselnd in alle vier Ecken des Wagens. Bei »du« zeigte ich auf die hintere rechte Ecke – da, wo vorne war, wenn der Anhänger angehängt war –, also ging ich dahin. Der Stuhltritt stand schon dort, und ich beschloss, mit der obersten Leiche anzufangen und mich dann nach unten zu arbeiten. Jedes Regal bestand aus vier Regalfächern, und an jeder Wand befanden sich sieben Regale. Achtundzwanzig Leichen pro Seite, sechsundfünfzig in diesem Kühlwagen. Ich musste mich beeilen. Um effizient und gründlich vorzugehen, entschied ich mich, nach einem regelmäßigen Schema zu arbeiten: vier nach unten, eins zur Seite, vier nach oben, eins zur Seite, wieder vier nach unten und so weiter, bis ich mit meinem vertikalen Zickzackmuster hinten bei der Tür angelangt war. Dann würde ich mir nach demselben Schema die andere Seite vornehmen, die anderen achtundzwanzig Leichen. »Okay, los geht’s«, sagte ich, stellte den Stuhltritt in Position, stieg auf die oberste Stufe und zog den Reißverschluss auf.
    Dem Etikett an ihrem Arm, ihrem Bein und dem Etikett vorne auf dem Metallregal zufolge handelte es sich bei der Leiche in der rechten vorderen Ecke des Kühlwagens um die Nummer 28. Sie trug etwas, was einst ein cremefarbenes Kostüm gewesen war, das wahrscheinlich einen hübschen Kontrast zu ihrer Hautfarbe gebildet hatte, da sie Afroamerikanerin war. Anhand der Haut hätte ich das nicht sagen können – davon war kaum etwas übrig, und auch die Leichen Weißer wurden bei der Verwesung in der Regel rasch schwarz. Doch ihr Haar wies die charakteristische Krause auf, und ihr Kiefer und ihre Zähne ragten stark nach vorne, ein typisches Kennzeichen für die negroide Ethnie, die man Prognathie nennt. Ich zog den Reißverschluss zu und ging eine Etage tiefer.
    Leiche Nummer 107, die zweite, die ich mir ansah, schien eine ältere weiße Frau mit dünnem, feinem Haar zu sein. Mein Puls beschleunigte sich, als ich sah, dass sie Blau trug – es sah zwar eher nach Marineblau aus als nach Himmelblau, doch Fotos können einen leicht in die Irre führen. Ich brauchte jedoch nur einen kurzen Augenblick, um zu sehen, dass sie Zahnprothesen trug, und von Burt und seinem Onkel wusste ich, dass ich nach einer Frau suchte, die noch ihre eigenen Zähne hatte. Fast alle eigenen Zähne, korrigierte ich mich.
    Und so rückte ich weiter vor: rauf, rüber, runter, rüber, wieder rauf, eine Leiche nach der anderen, ein Skelett nach dem anderen, alle weiblich, und keines wies genau die Kombination von Merkmalen auf, die zusammen einst von ihrem Ehemann Jeannie genannt worden war, von ihrem Neffen Tante Jean und von ihren Enkeln und Urenkeln Mamaw.
    Ich brauchte über eine Stunde, um mir die ersten achtundzwanzig Leichen anzusehen, und nur zwanzig Minuten für die Durchsicht der anderen Seite des Kühlwagens. Das erste Dutzend Leichen betrachtete ich genauer und schaute nach Hinweisen auf Alter und Ethnie. Doch bei dem nächsten Dutzend war ich schon abgestumpfter, und beim vierten Dutzend unbarmherzig und

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