Eine Hexe in Nevermore
hämmerte mit der Präzision eines Uhrwerks auf ihn ein. Verdammt noch mal, dann würde er eben noch mal bei Gray vorbeigehen. Und diesmal würde er so lange klopfen, bis jemand aufmachte oder die Tür nachgab.
Missmutig starrte er in die leere Kaffeetasse und überlegte gerade, ob er warten sollte, bis Arlene da war und frischen Kaffee brachte oder ob er sich selbst dazu aufraffen sollte. Normalerweise nahm er sich von zu Hause eine Thermoskanne mit Kaffee mit, deren Inhalt vorhielt, bis Arlene da war. Aber letzte Nacht hatte er nicht schlafen können und in der Nacht davor auch nicht. Deshalb hatte er gerade ein besonders starkes Koffeinbedürfnis.
Er nahm die Tasse in die Hand, stellte sie wieder ab und sah zum Fenster hinaus. Es war kaum Verkehr, nur ab und zu fuhr ein Wagen vorbei. Genau gegenüber war das Sew’n Sew, das örtliche Bekleidungsgeschäft. Die Besitzerin des Ladens, Mrs Thelma Clark, war vor knapp einem Jahr gestorben. Ihre mit ihr zerstrittene Tochter Mary, die mit achtzehn nach Kalifornien gegangen war, um dort Filmstar zu werden, wollte das Geschäft ihrer Mutter übernehmen, hieß es. Seine Mutter kannte Mary gut und hatte ihm einmal erzählt, dass sie »nur Flausen im Kopf« habe. Er hatte von Ms Clark bisher jedenfalls noch nichts gesehen, obwohl sie offensichtlich die Rechnungen für den Laden jeden Monat pünktlich zahlte. Wahrscheinlich würde sie irgendwann in Nevermore eintrudeln.
Taylor selbst verband nette Erinnerungen mit dem Geschäft. Seine Mutter hatte dort tagsüber gearbeitet. Abends bediente sie im Café – bis Cathleen Munch es übernahm. Nicht einmal seine gutmütige Mutter hatte an dieser Frau etwas Sympathisches finden können. Also hatte sie lieber irgendwelche Gelegenheitsjobs angenommen, während er selbst Ol’ Joe zur Hand gegangen war, dem übellaunigen Mistkerl, dem die Farm neben ihrer eigenen gehörte. Seine Mutter erlaubte nicht, dass er die Schule schmiss, obwohl er der Älteste und der Stärkste von ihnen war. Ol’ Joe nahm ihn hart ran, doch es dauerte nicht allzu lange, bis Taylor feststellte, dass der Alte ein weiches Herz hatte. Er war zweiundneunzig, als er starb, und Taylor arbeitete während seiner gesamten Schulzeit bei ihm. In dem Sommer, in dem er seinen Schulabschluss machte, trug er seinen Boss zu Grabe. Er weinte damals wie ein Kind, weinte um Ol’ Joe, wie er niemals um seinen eigenen Vater hatte weinen können.
Taylor war dennoch vollkommen überrascht, dass Ol’ Joe ihm all seine Habe vermacht hatte. Er erbte die Farm, das riesige Haus, die Scheune, die Tiere, alles. Das mickrige Stück Land und das viel zu kleine Haus, das seine Mutter besaß, verkaufte er daraufhin und zog mit der ganzen Familie auf Ol’ Joes Farm. Dort bekam jeder sein eigenes Zimmer, und die große offene Küche hatte es seiner Mutter besonders angetan. Sie verbrachte Wochen damit, ihr neues Zuhause gründlich sauber zu machen, jedes einzelne Möbelstück, jede Wand, jeden Fußboden. Und sie fing an zu backen. Chocolate-Chip-Kekse, Apfelkuchen, Brownies, Blaubeermuffins. Er seufzte bei der Erinnerung daran, wie gut das alles geschmeckt hatte.
Nachdem sich die Familie eingelebt hatte, baute er für sich selbst eine Wohnung in einem der leeren Nebengebäude aus. Er renovierte alles ganz allein. Er mochte es schlicht und ruhig. Seine Geschwister, sosehr er sie liebte, trieben ihn in den Wahnsinn. Im Mooreland-Haushalt herrschte jeden Tag Chaos.
Dank Ol’ Joes Großzügigkeit musste Taylors Mutter ab da nicht mehr zusätzlich arbeiten, und Taylor konnte ein Fernstudium beginnen. Es dauerte eine Weile, aber schließlich machte er seinen Abschluss in Polizeiwissenschaft. Dann ging er auf die Polizeiakademie und schloss eine praktische Ausbildung an. Als er nach Nevermore zurückkehrte, ging er schnurstracks zu Grit und informierte ihn darüber, dass er gern der neue Sheriff der Stadt werden würde. Grit stellte ihn zunächst als Hilfssheriff ein – der Posten war dreißig Jahre lang unbesetzt gewesen. Er musste abwarten, bis sein Chef in den Ruhestand ging. Der freute sich, dem Neuling die ungeliebten Verwaltungssachen zu überlassen.
Doch das war Taylor egal. Er liebte diesen Job.
Vor fünf Jahren hatte sich plötzlich alles verändert. Das Leben war seinen ruhigen, gewöhnlichen Gang gegangen, so wie Taylor es mochte. Nacheinander verließen seine Geschwister das Haus, jetzt wohnten nur noch sein vierzehnjähriger Bruder Ant und seine siebzehnjährige Schwester
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