Eine Hexe in Nevermore
Lucinda nicht verantwortlich war, musste irgendjemand aus Nevermore es getan haben – falls sich nicht ein Fremder hier herumtrieb, der ihm bisher noch nicht aufgefallen war. Er schnaubte verächtlich. So ein Unsinn! In Nevermore konnte sich niemand verstecken. Die Leute tratschten viel zu gern, vor allem über Fremde. Allein drei Leute hatten ihm brühwarm von der Frau erzählt, die Gray besucht hatte, bevor sie schließlich bei Ember aufgetaucht war.
Lucinda Rackmore war ihm dennoch ein paar Antworten schuldig. Warum wollte Marcy die Stadt verlassen? Sie hatte nicht viel mehr dabei als die Sachen, die sie am Leibe trug. Wollte sie die Hexe einfach nur bis zum Highway bringen? Hatten die beiden gemeinsam die Stadt verlassen wollen? Oder war Lucinda per Anhalter unterwegs und Marcy hatte sie zufällig auf gesammelt? Warum waren Marcys Taschen ausgeleert? Wer hatte ihren Inhalt genommen?
Taylor hatte alle Beweismaterialien in Klarsichtbeutel verpackt und beschriftet, selbst die nasse Serviette, die neben der Leiche gelegen hatte. Doch der Regen hatte sämtliche Spuren zerstört, an Fingerabdrücke war nicht zu denken. Als Gesetzeshüter standen ihm aber diverse magische Gegenstände zur Verfügung. Weltliche konnten die Energien, die man für einen Zauberspruch benötigte, nicht selbst aktivieren, doch sie konnten zu diesem Zweck Objekte mit magischen Eigenschaften benutzen. Allerdings wurde der Gegenstand unbrauchbar, nachdem sein Zauber einmal aktiviert worden war. Taylor standen diverse magische Werkzeuge zur Verfügung, doch keines davon war in der Lage, abgewaschene Fingerabdrücke auf durchnässte Notizblöcke oder Stifte zurückzuzaubern.
»Ich habe nichts«, murmelte Taylor. Missmutig schob er den Ordner weg und legte ihn dann ordentlich neben seinen Terminkalender. Unordnung kam bei ihm nicht vor.
Vor zwei Tagen war Gray mit der Hexe verschwunden. Seitdem war Taylor ein paarmal bei ihm gewesen, doch Gray hatte nie die Tür geöffnet. Er konnte launisch und distanziert sein, aber an seiner Integrität gab es keinen Zweifel. Plötzlich überkam Taylor eine dunkle Vorahnung, und er fragte sich, ob im Haus des Hüters wohl etwas vorgefallen war.
Er vertraute auf seine Instinkte, doch er zog keine voreiligen Schlüsse. Es lag ausschließlich an seiner eigenen Voreingenommenheit gegen Rackmore-Hexen, dass er Lucinda am liebsten für alles verantwortlich machen wollte, das schieflief. Wahrscheinlich öffnete Gray die Tür nicht, weil er sich um Lucinda kümmerte. Andererseits war das umso merkwürdiger, denn eigentlich hatte Gray ja noch viel mehr als er einen Grund, die Rackmores zu hassen. Immerhin hatte ihn Lucindas Schwester in die Hölle geschickt!
Die Vorahnung wurde stärker.
Hatte Lucinda Gray etwas angetan?
Nein. Diese sich vor Schmerzen krümmende Frau war nicht in der Lage, dem Hüter etwas anzutun. Gray hatte gesagt, der Fluch würde drei Tage andauern. Und wenn es wirklich Dämonenmagie war … Verdammt. Plötzlich empfand Taylor Mitleid mit ihr. Es stimmte einfach nicht, was Gray ihm unterstellt hatte – dass er die Rackmore-Hexe einsperren wollte, um die ihm zugefügten Wunden seiner Kindheit zu rächen. Sein Vater hatte sich dazu entschlossen, seine Familie zu verlassen, das wusste Taylor. Natürlich war es leichter gewesen, die fremde Frau dafür verantwortlich zu machen. Kein Kind wollte glauben, dass es dem eigenen Vater egal war. Damals hatte Taylor die erste Lektion über Verrat und Feigheit gelernt. Edward Mooreland war so feige, dass er seiner Frau die Wahrheit nicht ins Gesicht sagen konnte. Er hatte nur feige einen Brief hinterlassen.
Dieser Scheißkerl.
Taylor schob die Erinnerungen beiseite und konzentrierte sich auf seine aktuellen Probleme.
War Lucinda wirklich so kaltblütig wie ihre Schwester? Irgendetwas Schlimmes musste sie ja getan haben, um sich Bernard Francos Rache zuzuziehen. Gut, der Typ war ein Ausnahme-Arschloch. Aber was hatte Lucinda getan? Was hatte den Raben so verärgert, dass er einen Dämonenfluch über sie verhängt hatte? Warum hatte er sie nicht einfach umgebracht? Viele seiner Feinde waren über die Jahre einfach verschwunden.
Es gab zu viele Unbekannte in diesem Rätsel. Aber Taylor war ein Mann, der nichts vertagte. Er musste sich um die Angelegenheit Lucinda Rackmore kümmern, und wenn Gray sich weigerte, mit ihr zu sprechen, musste Taylor es eben selbst tun. Auch wenn er sie dazu in magische Quarantäne stecken musste.
Das ungute Gefühl
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