Eine Hexe in Nevermore
ergänzen oder auch abzuschaffen.
Sie sprachen eine Weile über Politik, auch über die neuesten Gerüchte, dass die Höchsten Gerichte wieder ein Verbot von Eheschließungen zwischen magischen und weltlichen Wesen einführen wollten.
»Wir leben nicht mehr im ersten Jahrhundert. Und selbst wenn, wären diese Gesetze nicht mehr zeitgemäß. Tatsache ist, dass es heutzutage viel mehr weltliche als magische Wesen gibt. Wir würden sehr schnell ohne künftige Partner dastehen.« Gray hatte sich in Rage geredet.
»Wahrscheinlich kommt der Vorstoß von den Raben«, vermutete Lucinda. »Viele von ihnen sind sehr puristisch.«
»So etwas gibt es nicht.«
»Ich weiß.«
Dann sprachen sie über die Gesetzgebung zur Magiekontrolle, die derzeit im US-Senat debattiert wurde. Das neue Gesetz räumte ein, mithilfe neuer Technologien testen zu können, ob ein Fötus magische DNS besaß. So konnten sich weltliche Eltern darauf einstellen, wenn ihr Kind ein Zauberer beziehungsweise eine Hexe werden würde.
Lucinda bemerkte Grays Blicke. Sie hatte ihn gebeten, ihr einen Umhang zu machen, was er im Nachhinein zu bedauern schien. Ihr war nicht unbedingt kalt gewesen, aber so halb nackt neben ihm zu sitzen empfand sie als eine zu große Versuchung. Leider schien sich Gray um seine eigene halb nackte Erscheinung weniger Gedanken zu machen. Wahrscheinlich war ihm durchaus bewusst, welche Wirkung sein Körper auf sie hatte. »Wäre es nicht eine schöne Vorstellung, dass Eltern ihr Kind lieben, ganz egal, wie es ist? Ob Junge oder Mädchen, weltlich oder magisch?«
»Auf jeden Fall«, pflichtete Gray ihr bei. »Das sollte eigentlich keine Rolle spielen.«
Dann begann er ihr von Nevermore zu erzählen. Darüber, wie es war, in einer so kleinen Stadt aufzuwachsen. Doch Lucinda hörte einen traurigen Unterton heraus und stellte fest, dass er durch Kerrens Verrat mehr verloren hatte als die Illusion von ewiger Liebe. Auch den Traum, Vater zu werden.
Lucinda schob den Gedanken weg. Bedauern wirkte wie ein langsames Gift, es kroch durch ihre Adern und stahl ihr Tropfen für Tropfen das Leben. Sie durfte nicht zu sehr an die Vergangenheit oder an die Zukunft denken.
Stattdessen hörte sie zu, wie Gray von seiner Kindheit erzählte und von seiner Stadt, die so sehr ein Teil von ihm war wie seine Seele. Sie ließ sich einlullen vom Klang seiner Stimme.
Taylor Mooreland trank den letzten Schluck seines kalt gewordenen Kaffees und lehnte sich dann in seinem Stuhl zurück. Sein Schreibtisch stand gegenüber vom Panoramafenster, von dem aus man die Main Street überblicken konnte.
Es war kurz nach acht Uhr morgens.
Er mochte den Morgen. Normalerweise saß er immer schon vor sieben Uhr am Schreibtisch, gut zwei Stunden vor der offiziellen Öffnungszeit des Büros. Seine Assistentin Arlene kam in der Regel um neun. Die sechsundfünzigjährige Mutter von vier erwachsenen Kindern ärgerte sich maßlos über Taylors Energie und Effizienz, denn am liebsten würde sie ihn ständig bemuttern.
Er lächelte. Arlene erinnerte ihn an seine eigene Mutter. Obwohl Sarah Mooreland nun seit fünf Jahren tot war, ertappte er sich manchmal dabei, wie er den Telefonhörer hob, um sie anzurufen. Er konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, dass sie nicht mehr da war. Die fünf Jahre kamen ihm vor wie fünf Minuten.
Er richtete den Blick auf den Bericht auf seinem Schreibtisch. Der Ordner war bereits aufgeschlagen, er hatte schon darin gelesen. Fotos von Autopsien waren für ihn nichts Ungewöhnliches, auch von Menschen, die er gekannt hatte. Nevermore war einfach zu klein, hier gab es keine Fremden. Doch Marcy da liegen zu sehen, verdreht wie eine Puppe, ging ihm an die Nieren. Die Arme. Sie hatte unter ihrer Stiefmutter schon genügend zu leiden gehabt. Natürlich hatte Cathleen nie die Hand gegen sie erhoben. Ihre Grausamkeit war von anderer Art gewesen. Sie zerstörte einfach das Selbstwertgefühl des Mädchens so sorgfältig, dass am Ende nichts mehr davon übrig geblieben war.
Gray hatte recht gehabt. Lucinda Rackmore hätte Marcy niemals so zusammenschlagen können. Als sie bei Ember auftauchte, war ihm gleich aufgefallen, wie ausgemergelt sie war. Und ihre Augen … Er hatte an seine Mutter denken müssen, nachdem sein Vater sie hatte sitzen lassen. Auch sie hatte den Blick einer gebrochenen Frau. Nein, Lucinda hatte nicht die Kraft und noch weniger den Willen, Marcy etwas anzutun.
Trotzdem wäre es besser, sie wäre die Täterin. Denn wenn
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