Eine Hexe in Nevermore
Beeilung!«, rief Gray.
Lucinda brauchte einen Moment, um in ihre abgelaufenen Turnschuhe zu schlüpfen. Dann rannten sie mit Maureen zu ihrem Wagen, dessen Motor noch lief. Gray und Lucinda stiegen hinten ein, und Maureen trat aufs Gas. Zwei Minuten später waren sie in der Stadt und parkten vor Embers Teestube. Sie stiegen aus und rannten über die Straße.
Schon erfasste die starke Hitze sie, und Rauch drang in ihre Lungen. Lucinda wich hustend zurück.
»Ich kriege den Hydranten nicht auf.« Ren hatte einen großen Rohrschlüssel in der Hand. Sein Gesicht und seine Kleidung waren rußgeschwärzt. Offensichtlich hatte man ihn aus dem Bett geholt, seinen verstrubbelten Haaren, T-Shirt und Pyjamahose nach zu urteilen. Schuhe trug er auch keine. Schnell erklärte er seinen Aufzug. »Ich war bei Trent. Er war es, der das Feuer als Erster bemerkt hat.«
»Habt ihr Taylor erreicht?«, wollte Gray wissen.
»Er ist auf dem Weg.«
»Ich kann den Hydranten öffnen.«
Ren sah Lucinda überrascht an. »Ich will ja nichts sagen, Lucinda, aber … Sie sind eine Frau.«
»Manche Dinge lassen sich auch ohne Muskelkraft bewerkstelligen.« Lucinda ging auf den Hydranten zu, um den herum die Feuerwehrschläuche wie tote Schlangen lagen. Die Verschlüsse waren total verrostet, und die Kratzer auf dem verblichenen Lack zeugten von Rens vergeblichen Bemühungen.
Lucinda berührte den Hydranten und nahm die Magie in sich auf, die um sie herum pulsierte. Sie benutzte sie, um das Wasser herbeizurufen, durch die Rohre, ins Erdreich … Da war es! Sie packte die Wassersäule mental und zog sie mit einem schnellen Ruck nach oben.
Der Deckel des Hydranten sprang ab, und das Wasser schoss in einer Fontäne in die Höhe und platschte auf die Straße. Es sprudelte wie ein riesiger wilder Geysir. Lucinda richtete die Hände auf den Strahl, rief die heiligen Energien an und befahl dem Wasser: »Lösche.«
Die Wassersäule stieg hoch, immer höher und wirbelte durch die Luft. Sie breitete sich aus, immer weiter, immer mächtiger, immer majestätischer – das Blut der Erde. Dann donnerte sie auf das Café herunter wie die Faust eines wütenden Gottes.
Sofort erstarb das Flammenmeer.
Die Wassertropfen spritzten alles nass, die Straße war völlig überflutet, aber das störte niemanden. Jubelrufe erklangen, und alle umringten Lucinda. Sie wurde fast erdrückt.
Es war wunderbar.
Kurz nach Mitternacht ging Happy den schlammigen Straßenrand der Cedar Road entlang. Lucy würde sicher nicht erfreut sein, sie zu sehen. Denn sie hatte ihr Versprechen gebrochen. Aber es war alles nicht ihre Schuld! Höchstens, dass sie von den Nonnen weggelaufen war. Aber das hatte seinen Grund.
Ihre Vision war der Auslöser dafür gewesen, dass sie ihren sicheren Aufenthaltsort verlassen und sich auf den Weg zu Lucinda gemacht hatte. Wenn sie nicht rechtzeitig bei ihrer Freundin ankam, würden Lucinda und ihr Mann mit der Narbe im Gesicht sterben. Das Seltsamste an der ganzen Sache war: Happy war nicht einmal ein magisches Wesen. Dennoch würde die Vision sich bewahrheiten – das hatte die Göttin ihr verheißen. Eigentlich war sie gar nicht gläubig. Aber trotzdem. Wenn die Göttin mit einer Zukunftsvision erschien und darum bat, dass man eine Botschaft überbrachte, musste man das ja wohl tun.
Happy hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie Schwester Mary Frances hereingelegt hatte. Sicher waren alle in heller Aufregung wegen ihres Verschwindens. Aber da niemand außer ihr wusste, wo Lucinda war – darauf hatte sie bestanden, damit Bernard niemanden foltern konnte, um diese Information zu erhalten –, konnte auch nur sie die Botschaft überbringen.
Happy wollte so gern bei Lucinda sein, denn sie vertraute ihr. Die Nonnen waren zwar ganz okay, wenn auch ziemlich durchgeknallt, aber sie fuhren total auf Regeln ab. Wenn Lucinda verlangte, dass sie zu ihnen zurückkehrte, würde sie es tun. Aber erst, wenn sie sich davon überzeugt hatte, dass Lucy hundertprozentig in Sicherheit war. Sie befand sich jetzt auf einer Mission, im Auftrag der Göttin. Deshalb würde Lucinda auch bestimmt nicht allzu böse sein, wenn sie bei ihr auftauchte.
Andererseits wusste man nie.
Happy biss sich auf die Unterlippe und stellte sich Lucindas Reaktion vor. Hoffentlich würde sie Happy zuerst umarmen – und erst dann anschreien. Wenn Menschen Angst hatten, reagierten sie häufig wütend, das hatte ihre Mutter mal gesagt. Was wiederum bedeutete, dass Bernard wohl die
Weitere Kostenlose Bücher