Eine Hexe in Nevermore
Überlegenheit, die sie ihm gegenüber an den Tag legte, war unerträglich. Sie glaubte offensichtlich allen Ernstes, sie wäre bedeutender als er. Bevor er diesen elenden Fluch ausgesprochen hatte, war er einer der mächtigsten Raben der Welt gewesen. Er hatte sehr viel für sein Haus geopfert, und er wurde dafür mit Geld und Macht belohnt. Es spielte keine Rolle, dass er keinen Sitz mehr im Inneren Gericht besaß oder nicht mehr an offiziellen Veranstaltungen teilnehmen durfte. Er kannte seinen Wert.
Aber genau dieses Bewusstsein hatten die Rackmore-Schwestern ihm gestohlen. Kerren hatte aus rein egoistischen Gründen Kontakt zu ihm aufgenommen. Sie half nie jemandem außer sich selbst. Und sie war eine Lügnerin. Vielleicht stimmte gar nicht, was sie über den Fluch sagte. Es konnte gut sein, dass er trotzdem einen qualvollen Tod starb, auch wenn er Lucinda tötete.
»Du hast mich immer noch nicht nach meinen Neuigkeiten gefragt.«
»Die sind mir egal. Lass mich in Ruhe und such dir ein neues Spielzeug.«
»Na, na, na. Da ist aber jemand zickig. Weißt du denn noch nicht, dass Gray Calhoun mit einem deiner alten Spielzeuge Spaß hat?«
In Bernards Brust verhärtete sich etwas. »Was willst du damit andeuten?«
»Die kleine Lucinda ist in Nevermore. Und hat sich die Hilfe meines Exgatten erbettelt.«
»Du lügst!«
»Sie hat ihn geheiratet!« Sie lachte. »Lucinda und Gray sind ein Liebespaar!«
»Halt den Mund! Halt endlich den Mund!« Er hustete und keuchte, und die ganze Zeit glotzte Kerren ihn mit amüsierter Miene an, den Mund zu einem grausamen Lächeln verzogen. Er hasste sie so sehr! »Du hast ihn verraten und ihm einen Dolch ins Herz gestoßen. Er muss verrückt sein, deine Schwester zu heiraten!«
»Gray hatte schon immer ein Herz für gefallene Frauen.«
Etwas in ihrer Stimme ließ ihn aufhorchen. Bernard zwang sich, seine eigenen Gefühle zu ignorieren, um sich voll auf Kerren zu konzentrieren. Oh ja. Hinter ihrem Amüsement und ihrem unverhohlenen Versuch, ihn zu manipulieren, spürte er Verunsicherung. Kerren war tatsächlich nervös. Auch wenn sie ihre Gefühle hinter ihren gruseligen Augen und ihrer Schönheit zu verstecken versuchte, konnte sie die starke Anspannung nicht verbergen. Er war für das Geschlecht der Raben unter anderem auch deshalb so nützlich gewesen, weil er genau solche Geheimnisse erspüren konnte. »Es hat mich immer gewundert, wie schnell du den Handel mit deinem neuen Liebling abgeschlossen hast. So viel Magie und Rituale in so kurzer Zeit.« Er hielt inne und lächelte matt. »Du wusstest, welche Auswirkungen der Fluch hat, habe ich recht? Schon bevor er umgesetzt wurde.«
Für eine Nanosekunde sah Kerren geschockt aus. Dann zuckte sie gleichgültig die Achseln. »Was meinst du, wer den Handel mit meinen Vorfahren geschlossen hat?«
»Kahl.« Bernard konnte nicht anders, er musste diesen großartig geplanten Betrug bewundern. »Aber wieso Gray? Hast du etwa Zettel mit verschiedenen Namen in einen Hut geworfen und dann gelost? Oder gab es einen speziellen Grund, warum deine Wahl auf ihn fiel?« Er tippte mit dem Zeigefinger an seine Lippen. »Vielleicht, damit er sich von deiner Schwester fernhielt?«
»Wieso das denn?«
» Gib das Herz dem Drachen, auf dass er alles beschützen kann, in dieser Welt und in der nächsten, immerdar. «
»Du zitierst den Schmonzes aus den Schriften der Göttin?«
»Was ist so wichtig an Nevermore?«
»Sind wir jetzt in einer Folge von ›Gute Zeiten, schlechte Zeiten‹, oder was?«
»Warum darf ich deine Schwester auf einmal umbringen, Kerren?«
»Mein Gott! Was bist du jämmerlich. Okay, schon gut. Ich verrat’s dir. Sie war von einem Schutzzauber umgeben. Meine Mutter war nicht dumm. Doch ihr Mann hielt sie finanziell knapp, also konnte sie sich den Schutzzauber für Lucy nur ein paar Jahre leisten. Er endete, als Lucinda fünfundzwanzig wurde.«
»Das war auch der Moment, in dem sie sich aus meinem Gehorsamkeitszauber löste. Ich verstehe. Und dann hast du mir den Fluch gegeben.« Bernard wunderte sich, wie freigebig Kerren plötzlich diese Informationen herausrückte. »Wo bist du auf dem großen Schachbrett, frage ich mich.«
»Pass auf dich auf, Bernard.«
»Was habe ich noch zu verlieren? Ich bin schon so gut wie tot.«
»Aber du hast noch eine Seele, eine Seele, die der Unterwelt gehört. Wenn du glaubst, dass du gerade Leiden durchlebst, warte, bis du das Reich des Dunklen Herrschers betrittst. Ich werde dich
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