Eine hinreißende Schwindlerin
beleuchtet waren, hatte sie bislang nur von draußen betrachten können. Die Nacht schien vor diesen hellen Lüstern zu fliehen.
So etwas hatte Jenny noch nie gesehen. Der ganze Raum wurde erhellt von scheinbar tausend goldenen Sonnen. Er war taghell, keine Ecke lag im Schatten. Der einzige Unterschied zwischen diesem Licht und dem Tageslicht war der, dass in der satten Gelbtönung dieser Beleuchtung das Braun ihres Kleides graubraun wie Straßenstaub wirkte.
Und genauso fühlte Jenny sich auch neben Lord Blakely.
Seine Aufmachung kam bei diesem Licht besonders gut zur Geltung. Die dunkelrote Stickerei auf seiner schwarzen Weste stach dezent hervor. Die erlesen geschliffenen Jettknöpfe funkelten. In dem Licht konnte Jenny auch sehen, wie edel das Tuch seines schwarzen Jacketts war. Die dunklen Farbtöne betonten die goldenen Einsprengsel in seinen Augen.
Noch nie zuvor hatte Jenny sich so schäbig gefühlt. Ihr Kleid war schlicht und ohne Zierrat. Einfach geschnitten; leicht an- und wieder auszuziehen. Die Art von Kleid, das eine alleinstehende Frau auch ohne Hilfe einer Zofe anziehen konnte. Und weil nur eine Frau, die mit wenigen Mitteln auskommen musste, ein so geschnittenes Kleid kaufen würde, hatte sie sich für ein vernünftiges, praktisches Braun entschieden. Alles andere wäre fehl am Platze gewesen. Aber genauso fühlte sie sich jetzt – fehl am Platze.
Als sie den Blick hob und sich umsah, verstärkte sich dieses Gefühl nur noch. Sie hatte es für eine gute Idee gehalten, ihr Haar letzte Nacht auf Papierröllchen zu wickeln und die entstandenen Locken an diesem Nachmittag dann mit darin verflochtenen Bändern hochzustecken. Jetzt sah sie um sich herum perfekt gedrehte Korkenzieherlocken, die raffiniert aus kunstvollen Frisuren herabhingen, geschmückt mit Blumen – echten und solchen aus Seide – und Haarbändern, die viel farbenfroher waren als ihre eigenen in nichtssagendem, leicht verblichenem Dunkelrot.
Wenn sich die anderen Damen bewegten, so vollzogen sie jeden Schritt voller Anmut. Sie alle wirkten so sauber und adrett. Selbst aus der Entfernung nahm Jenny den Duft ihrer Parfums wahr.
Und dann der Saal selbst! In ihm fanden so viele Menschen Platz wie auf Londons geschäftigster Straße. Noch nie hatte sie einen so großen Raum innerhalb eines Gebäudes gesehen. Mit den Blicken folgte Jenny den hohen ionischen Säulen, die den Saal umstanden, nach oben bis zu der mit Goldstuck verzierten Decke, bestimmt etliche Schritt über ihr. Ihr brach der Schweiß aus. Es gab keinen Grund, dass einem wegen dieser Höhe schwindelig wurde, wenn man mit beiden Beinen sicher auf dem Boden stand.
Aber ihr wurde trotzdem schwindelig. Ihre Finger gruben sich unwillkürlich in Lord Blakelys Ärmel.
„Keine Angst, Mrs. Barnard“, sagte er kühl. „Es dauert nicht lange, dann haben wir Sie verheiratet.“
Jenny brauchte einen Moment, bis sie sich daran erinnerte, dass sie Mrs. Barnard war. „ Wie bitte ?“
„Ist das nicht der Grund, warum wir mit Ihnen hier hergekommen sind? Was hältst du davon, Ned? Wir bringen unsere entfernte Cousine her, damit sie einen neuen Ehemann finden kann. Auf irgendeine Geschichte müssen wir uns einigen, ehe wir uns unter die Leute mischen und man von uns verlangt, dass wir uns vorstellen.“
„Unsinn“, wandte Jenny ein. „Mein Mann ist erst vor einem Jahr gestorben. Ich habe kein Interesse an einer neuerliche Ehe, doch Sie haben freundlicherweise beschlossen, mich etwas aufzuheitern.“
„Freundlicherweise?“, wiederholte Ned. „Blakely? Denken Sie sich lieber eine Geschichte aus, die man Ihnen auch glaubt!“
Jenny lächelte Ned an und legte ihre Hand nun auf seinen Arm. „Mein Lieber, das Ganze muss Ihre Idee gewesen sein.“
Lord Blakely rieb sich die Armbeuge, als wollte er ihre Berührung fortwischen. „Hast du gemerkt, Ned, wie mühelos sie lügen kann?“
Jenny atmete tief durch. Nur weil sie sich fühlte wie ein hässliches graues Entlein unter lauter Schwänen, brauchte sie sich noch lange nicht von Lord Blakely einschüchtern zu lassen. „Aber Lord Blakely!“, fiel sie ihm ins Wort. „Sie lächeln ja gar nicht. Was können wir nur tun, damit Sie allmählich Vergnügen an diesem Ball finden?“ Er wollte etwas erwidern, aber sie kam ihm zuvor und klatschte erfreut in die Hände. „Ich weiß es!“, sagte sie. „Genau das Richtige, um Ihre Stimmung aufzuhellen. Wollen wir nach der Uhrzeit sehen?“
Lord Blakely sah zu der Wanduhr hinüber,
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