Eine hinreißende Schwindlerin
aber Jenny schüttelte den Kopf.
„Auf Ihrer Taschenuhr.“
Nach einer Weile zog er eine schwere goldene Taschenuhr aus seiner Westentasche. Er klappte sie auf und betrachtete das Zifferblatt. „Also gut, Mrs. Barnard. Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Es ist achtunddreißig Minuten nach zehn.“
Bis aufs Äußerste gespannt, beobachtete Ned, wie sein Cousin von seiner Uhr aufsah. Nur noch eine Minute! Endlich würde er Zeuge werden, wie Blakely sich verliebte. Dann würde sein Cousin heiraten und Erben in die Welt setzen – andere Leute, die er wie seine Untergebenen behandeln und mit seiner kalten, beherrschten Art malträtieren konnte. Und vor allem würde Madame Esmeralda – und Ned selbst auch – endgültig rehabilitiert sein.
War die Minute schon um? Ned widerstand dem Bedürfnis, seine eigene Uhr hervorzuziehen. Madame Esmeralda hatte gesagt, sie sollten sich nach Blakelys Uhr richten, also musste es dabei bleiben.
Aber dieser schreckliche Mensch schickte sich gerade an, die Uhr wieder in seine Westentasche zu schieben. Ned streckte die Hand aus und wollte sie seinem Cousin aus der Hand ziehen, aber die Uhr leistete Widerstand.
Blakely verzog gereizt das Gesicht. „Ned, die Uhrkette ist an der Weste befestigt, wie du dich vielleicht erinnerst.“
Wie konnte der Mann nur so verdammt gelassen sein? „Verzeihung“, murmelte Ned und zog wenig reuig erneut an der Kette. Als Blakely keine Anstalten machte, ihm die Uhr zu überlassen, fügte Ned hinzu: „Könntest du die Kette bitte losmachen? Wir brauchen die Uhr hier!“
„Mit Vergnügen“, erwiderte Blakely spöttisch. Betont umständlich löste er den Haken der Kette aus dem Knopfloch seiner Weste. Doch all das Getue war sinnlos, denn es war …
Immer noch achtunddreißig Minuten nach zehn. Ned seufzte. Nun gut, es war noch nicht allzu viel Zeit vergangen, eigentlich hätte es ihn nicht überraschen sollen. Nur um sicherzugehen, sah Ned noch einmal nach.
In der Tat. Achtunddreißig Minuten nach zehn. Ned seufzte erneut und ließ den Blick über die Menge schweifen. Er fragte sich, welche der Damen wohl für seinen Cousin ausersehen war. Keine von ihnen kam ihm sonderlich interessant vor.
„Ned“, flüsterte Madame Esmeralda. „Wissen Sie noch, was ich Ihnen zum Thema Geduld gesagt habe?“
„Ich bin geduldig“, protestierte Ned leise.
Sie räusperte sich. „Ihr Fuß.“
Ned zuckte zusammen und sah nach unten. Er tappte tatsächlich nervös mit dem Fuß auf den Boden. Er zwang sich, damit aufzuhören, und weil durch das Ganze wieder kostbare Sekunden vergangen waren, warf er einen neuerlichen Blick auf die Uhr. „Immer noch achtunddreißig Minuten nach zehn? Blakely, ist das verdammte Ding stehen geblieben?“
Doch ehe sein Cousin antworten konnte, geschah es. Der Minutenzeiger begann zu zittern … und rückte einen Strich weiter. Ned überlief eine Gänsehaut und er sah Madame Esmeralda an.
„Die neununddreißigste Minute ist angebrochen“, verkündete sie feierlich.
„Und wehe uns allen.“
Es war ein Rätsel, wie Blakely so gelangweilt aussehen konnte, wo es doch um seine Zukunft ging! Aber Madame Esmeralda würde schon alles in den Griff bekommen. Ned richtete den Blick erwartungsvoll auf sie.
„Da“, sagte sie schließlich und zeigte in die Menge. „Das ist sie. Die in dem blauen Kleid dort, an der Wand.“
Ned sah in die Richtung, in die sie zeigte. Seine Augen weiteten sich verblüfft und beinahe hätte er sich vor Schreck verschluckt.
„Meinen Sie vielleicht die Dame mit den bezaubernden Federn im Haar?“, fragte Blakely ungerührt. „Sie ist reizend. Ich glaube, ich habe mich bereits in sie verliebt.“
„Sie … ich … das …“, stammelte Ned und drehte sich zu Madame Esmeralda um. Es schien ihm völlig die Sprache verschlagen zu haben. Schon öfter hatte er Zweifel verspürt, wenn er in ihr kluges, wissendes Gesicht gesehen hatte. Aber das waren immer Zweifel an sich selbst gewesen. Er hatte bezweifelt, ob es ihm je gelingen würde, die düstere Stimmung abzuschütteln, die ihn von Zeit und Zeit niederdrückte. Eine endlos scheinende Sekunde lang jedoch streifte ihn der eiskalte Hauch der Unsicherheit und er zweifelte an ihr . Hätte sie auf ein Schwein gezeigt, wäre er der festen Überzeugung gewesen, es sei eine verzauberte Prinzessin, die man ganz einfach nur zu küssen brauchte, um sie zu erlösen. Doch sie hatte die einzige Frau ausgesucht, die Blakely niemals heiraten konnte
Weitere Kostenlose Bücher